„Eines Tages werde ich es schaffen. Wirklich. Jetzt lacht ihr noch über mich. Aber dann werden ihr staunen und sehen, wie ich es mache. Eines Tages werde ich fliegen.“
Und sie lachten wirklich. Sie lachten ihn aus.
Doch er war beim besten Willen nicht davon abzubringen, der Eine. Deshalb zog er eines Mittwochs aus, um das Fliegen zu lernen. Er packte seinen Ranzen, gab seiner Mutter noch einen dicken Abschiedskuß auf die gerötete Wange, ließ noch einige Versuche, ihn zum Bleiben zu überzeugen, über sich ergehen, aber er war unnachgiebig. Mit neunzehn Lenzen hatte er ein Recht, alles zu tun oder zu lassen, so wie er es eben wollte. Obwohl sein Vater auch Erwin hieß, konnte er seinen Sohn ebenfalls nicht davon abbringen, in dieses Abenteuer zu stolpern.
„Ja, eines Tages werde ich fliegen.“ Das murmelte Erwin immer so vor sich hin, als ob er nichts besseres zu tun gehabt hätte, und genau so verhielt es sich auch. Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde, während seine Beine Kilometer über Kilometer hinter sich ließen. Ohne jegliches Hilfsmittel wollte er es schaffen. Kein Flugzeug, kein Hubschraubereinsatz oder kein Energiedrink sollten ihm bei seinem Unterfangen unterstützen.
Warum hatte er sich dieses ehrgeizige, aber vielleicht doch ein wenig unmögliche Ziel gesteckt? Was bewog ihn dazu, so etwas scheinbar Außergewöhnliches zu versuchen? Weshalb sollte er es wagen, sich Newton zu widersetzen? Hatte dieser ihm etwas getan?
Nein, natürlich nicht. Die Lösung war ganz simpel, um nicht behaupten zu müssen, ganz einfach. Erwin stammte wirklich nicht von dummen Eltern ab. Er brachte schon vieles zu Stande. Zum Beispiel in der ersten Klasse Volksschule, da konnte er bereits schreiben. Nur Hannes erwies sich schneller von Begriff. Dieser schaffte es schon im Vorschulalter erfolgreich Buchstabe um Buchstabe aneinander zureihen und damit auch noch etwas Verständliches, wie etwa eine Abhandlung über das Wesen des Schreibens von 10 968 vor Christus bis jetzt, auszudrücken.
Dann, in der 3. Klasse Handelsschule gelang es Erwin, die Einstein'sche Relativitätstheorie zu widerlegen. Aber Hubert hatte schon ein Jahr zuvor das Kunststück zu Wege gebracht, die Widerlegung der Einstein'schen Relativitätstheorie zu widerlegen. Also wieder nichts. Erwin spielte wieder einmal nur die zweite Geige, denn die erste spielte bereits Margit, die sogar schon auf Welttournee gegangen war, während es Erwin nicht über Eurasien hinaus geschafft hatte.
Diese kleinen Niederlagen frustrierten ihn verständlicherweise ziemlich. Wem erginge es nicht so? Aber viel mehr ärgerte es ihn. Er wollte endlich etwas schaffen, was noch nie irgend ein Mensch vor ihm fertig gebracht hatte.
Nach langer Wanderung - handelte es sich um 19 Tage oder 27 Kilometer oder nur 4 Seitensprünge? - kam er in eine, für seine Ansprüche gar nicht so üble Gegend, die als das größte Irrenhaus des Landes verschrien war. Die Leute dort verhielten sich sogar so irre, daß sie für ihr Haus weder ein Dach, geschweige denn, Wände, Fenster, Türen eingeplant hatten. Auch fehlten Tische, Sesseln, Betten, Nachttischlampen und Fußabstreifer. Nur ein großer Turm war zu sehen, an dem sie gerade übereifrig bauten. Hoch ragte das Monument in den Himmel. Sollte das ein zweiter „Turmbau zu Babel“ sein? Waren sie wirklich so von üblichen Weltanschauungen entfernt, daß sie an solche Geschichten noch glaubten und ihnen sogar noch nacheiferten.
Doch für Erwin bot sich dabei eine ideale Gelegenheit. Dieses hohe Gebäude war bestens dazu geeignet, um hinaufzusteigen und sich dann mit weit ausgebreiteten Armen hinunterstürzen zu lassen. Segeln, so frei wie ein Adler im Wind, der gerade nicht von einem Hustenanfall geschüttelt wurde, ja, das hatte er vor. Er wollte seine Gedanken gerade in die Tat umsetzen, als ihm auffiel, daß der Turm keine Stufen besaß, auch keine Treppe war zu erspähen. Wie bereits erwähnt, die Bewohner hier waren ein klein wenig wunderlich. Wie wollten sie denn so in den Himmel hinaufsteigen und ihrem Gott huldigen?
Er machte sie mit bescheidenen Gesten deutend auf diesen seiner Meinung nach ein bißchen fatalen Fehler aufmerksam und die anwesenden Leute waren von seiner Erkenntnis, die sie für eine waschechte Erleuchtung hielten, ihr wißt schon nostradamuslike, so begeistert, daß sie ihm tausendundeinmal dankten, ihrem alten Gott sofort abschworen, Erwin als ihren neuen einsetzten, den Turm niederrissen und hunderte von Treppen errichteten, alle zu Ehren ihres neuen Erleuchters. Kein Stufengebilde aber war hoch genug, um ernsthaft daran glauben zu dürfen, von ihm aus einen erfolgreichen Flugversuch starten zu können. Diese Glaubenskrise bewog Erwin, in einer Nacht- und Nebelaktion zu flüchten und das Weite zu suchen. Vielleicht würde er dort eine bessere Gelegenheit vorfinden, seinen gewagten Plan zu verwirklichen. Doch die Einwohner bemerkten seine Flucht überaus schnell, so dumm waren sie doch wieder nicht und zeigten sich darüber so empört, daß sie ihn einfingen, wieder absetzten, alle Treppen aus Trotz niederrissen, Erwin an einen Marterpfahl fesselten, ihn dann aber wieder losbanden, weil sie keine Indianer waren und ihnen außerdem der Pfahl zu schade dazu war und ihn deshalb einfach aus ihrer Mitte verjagten und sie ab sofort zu Atheisten konvertierten.
Dem verhinderten Gott machte das aber reichlich wenig aus, weil er sowieso von diesem Irrenhaus weg wollte und deshalb wanderte er immer weiter und weiter bis er zu zwei Streithähnen kam, die sich auf heftigste bekriegten. Der eine sah dem amerikanischen Präsidenten so zum Verwechseln ähnlich, daß es eigentlich nur derselbe sein konnte und der andere glich dem russischen bis aufs Haar, welches er aber sicher nur zur Tarnung grün gefärbt hatte - umsonst. Das konnten nur die Originale sein, die da in voller Kampfausrüstung, d. h. selbstladende Maschinengewehre, Raketenwerfer, Munitionsgürteln, Atombomben, Schwertern und grün-braun gefleckte Socken zwecks Anpassung an die Umwelt und Parteienlandschaft, dastanden. Diese beiden Männer fochten trotz Glasnost. Perestroika, Abrüstung und Milliardenschulden vermutlich in Vertretung für ihre Staaten und Soldaten einen Krieg aus.
Sehr vernünftig, dachte sich Erwin. Lieber ein toter Präsident, als Millionen verstorbene Kriegsdiener und Zivilisten. Da kam ihm eine Idee. Er hielt sie für gar nicht so übel. Wie wäre es, wenn er sich auf eine der Raketen setzen würde, die dann einer von den Präsidenten starten mußte und wenn er den Scheitelpunkt seiner Flugbahn erreicht hatte, konnte er einfach loslassen und abspringen und dann weitersehen, was geschehen würde.
Heimlich platzierte er sich auf einen mit einer Atombombe bestückten Flugkörper, so daß ihn keiner bemerkte und wartete darauf, daß sie los ginge. Es dauerte nicht lange und einem der Präsidenten wurde das Spiel zu langweilig und er beschloß zur Abwechslung eine Millionenstadt auszurotten. Das war zwar auch nicht gerade einfallsreich, aber was sollte er tun. Was besseres fiel ihm gerade nicht ein. Er zündete die Rakete mit dem blinden Passagier und los ging die Reise. Explosionsartig wurde Erwin in die Luft katapultiert, so daß ihm ganz schwindlig wurde. Aber das war eben doch noch nicht das Wahre. Er wollte sich gerade von seinem Transportmittel vorsichtig lösen, als ihm einfiel, daß auch er sterben mußte, wenn das Ding in die Luft ginge. Da er im Moment keine besondere Lust darauf hatte, beschloß er, eben so auf die Schnelle, es zu entschärfen.
Da er keine Fachkenntnisse dafür aber wahnsinniges Glück für sich verbuchen durfte, schaffte er es, diese schwierige Aufgabe zu lösen und rettete damit Franz und Egon, Ilse und Hilde, sowie noch einigen anderen Menschen das Leben. Als er endlich die Situation wirklich total im Griff hatte, war es leider schon längst zu spät, den zweiten Teil seines Planes durchzuführen, weil der Fallschirm - es handelte es sich wohl noch um eine altmodische Bombe aus der Hiroshima-Ära - des entschärften Sprengkopfes sich bereits geöffnet und sich unser Held ein wenig darin verheddert hatte. In einer unbequemen Lage aber dafür um so sanfter gleitete er zu Boden, aber eigenständig zu fliegen, daß war ihm noch immer nicht vergönnt worden.
Dafür waren ihm tausende Menschen überaus dankbar, die das Ausmaß der verhinderten Katastrophe abzuschätzen fähig waren. Sie trugen Erwin jubelnd auf den Schultern durch die Straßen, feierten ein riesiges Fest zu seinen Ehren, machten ihn zum Ehrenbürger ihrer Stadt und versprachen, ihn zum Bürgermeister zu wählen.
Das wollte er dann aber doch wieder nicht und deshalb schlich sich Erwin wieder einmal ziemlich deprimiert, weil er sein Ziel noch immer nicht erreicht hatte, auf leisen Sohlen davon. Besser ausgedrückt: Er rannte fort. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt. Er war nicht davon abzubringen. Nicht um die Burg.
„Eines Tages werde ich es schaffen. Ich werde fliegen. Ohne fremde Hilfe, wie ein Vogel im Wind.“
Hatte er sich zu viel vorgenommen? War sein Ziel vielleicht schon von Haus aus zu hoch gesteckt. Apropos Haus, da dachte er ans „Hohe Haus“, d.h. ans Parlament. Da flogen doch auch oft die Fetzen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich diesen anzuschließen, sich an einem festzuklammern und mitzuschweben.
Bevor es aber dazu kommen konnte, stürzte er die hohe Feldwand, den steilen Abgrund, oder den Baukran, was auch immer, hinunter. Diese Gefahr hatte er in der Eile völlig übersehen. Aber macht nichts, dachte sich Erwin noch ganz schnell, bevor es zu spät war. Endlich war es soweit. Er befand sich auf den Weg nach unten. Oje - unten - irgend etwas lief schief. Das war wohl die falsche Richtung. Aber er flog, ohne daß er ein fremdes Hilfsmittel dazu verwendete - und nur das zählte in diesem Moment.
Doch seine Freude hielt nicht mehr lange an, denn im letzten Moment fiel ihm ein, daß er bei weitem nicht der Erste war, der in diese Richtung ohne fremde Hilfe fliegen durfte.
Bevor Du weitersurfst möchtest Du Dich möglicherweise noch ins Gästebuch eintragen?
Werbung:
Mitarbeit...
Du willst diese Online-Zeitung mitgestalten? Schick mir Deine Gedichte, Kurzgeschichten, Buchbesprechungen, Kritiken, Lobeshymnen - oder vielleicht ganz was Neues? Erlaubt ist, was Spaß macht und keinen kränkt oder geschmacklos ist.