In einem fernen Land, beherrscht von Feuer und Eis, umwoben von Geheimnissen und Mythen leben die Menschen auch heute noch abhängig von den Launen der Urgewalten, die sie sehr oft zu spüren bekommen. Die bizarren Felsen und weiten einsamen Ebenen, die Mondlandschaften gleichen, beflügeln ihre Phantasie.
Nur die wenigsten von ihnen streiten es ab. Stattdessen geben sich die Meisten dem Zauber des Glaubens an eine zweite, für Normalsterbliche unsichtbare Welt hin. Im Herzen haben sie sie bereits gefunden, die Wesen in diesem anderen Dasein. Es sind Elfen, die ein friedliches Nebeneinander mit den Menschen suchen.
Diese lieblichen Zauberwesen wohnen in den Bergen. Ab und an aber wählen sie kleinere Felsbrocken. Manchmal liegen diese sogar direkt an den Straßen der Menschen.
In Reykjavik, der Hauptstadt dieses Landes, steht Bauleiter Gunnar grübelnd genau vor einem solchen riesigen Stein. Der lagert dummerweise da, wo eine Ausfahrtsstraße angelegt werden soll. "Hört ´mal, Leute!", ruft er seinen Mitarbeitern zu, die langsam auf ihn zustreben. "Das wird haarig, den Klotz hier wegzuhieven!" "Chef, mit unserem Kran ist das wohl kein Problem!", entgegnet Erik, einer der Arbeiter. "Nee, Gunnar hat Recht. Einfach wird das nicht!", widerspricht Amur, sein Kollege. "Nutzt alles nichts. Auf in den Kampf!" Er spurtet zu dem Baufahrzeug, klettert in die Fahrerkabine und lässt den Motor an. Der heult auf und macht einen Riesenlärm. Doch das Fahrzeug rührt sich nicht von der Stelle. Nur die Räder drehen durch. Es ist nichts zu wollen. Amur springt heraus und prüft den Untergrund auf Hindernisse. Nichts. Es folgt ein zweiter Versuch - umsonst! Ratlos stehen die Männer beieinander und schütteln die Köpfe. So etwas haben sie noch nie erlebt.
"Holt den zweiten Bagger!", fordert Gunnar die Beiden auf. Der steht vor einer Baugrube ein paar Minuten entfernt. Diesmal versucht Erik sein Glück. Was ist das? Das Fahrzeug setzt sich in Bewegung, doch nicht in der gewünschten Richtung. Stattdessen rutscht es unaufhörlich der Grube zu und ist auch nicht zu stoppen. Erik wird es mulmig und er ruft laut um Hilfe. Aber es ist zu spät. Schon hat der Wagen den Rand der Grube erreicht und rollt immer schneller dem Grunde zu. Mit einem lauten Getöse überschlägt er sich, bleibt auf der Seite liegen. Die Fahrerkabine ist eingedrückt, Eriks Kopf liegt blutend über dem Steuer. Es dauert einige Minuten, bis eifrige Helfer den Mann befreit haben und dann auf dem schnellsten Wege rasch zum nächsten Krankenhaus fahren. Wie sich später heraus stellt, hat er noch einmal Glück gehabt. Es ist nur eine üble Platzwunde.
Doch selbst dieser tragische Zwischenfall kann die Männer nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Schließlich haben sie ihren Auftrag auszuführen. Nun versucht Amur, den Brocken mit einem Presslufthammer zu zerkleinern. Der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht und den ganzen Körper. Gesteinsbröckchen fliegen umher. Da: Eine überstehende Steinspitze hat sich gelöst und fliegt mit rasender Geschwindigkeit dem Arbeiter ins Gesicht. Der schreit auf, lässt das Werkzeug fallen und schlägt verzweifelt die Hände vor die Augen. "Nein! Ich kann nichts mehr sehen. Hilfe!" Panisch um sich tastend taumelt Amur hilflos umher. Fassungslos haben Gunnar und die Umstehenden das Geschehen beobachtet. Das Gerät ist doch richtig angesetzt worden, wie konnte das nur geschehen?
Gunnar wird es eigenartig zumute. Er bemüht sich um innere Ruhe, denn es ist ihm ein erschreckender Gedanke gekommen. Sollen da Wesen aus der anderen Welt ihre Hand im Spiel haben? Wollen sie auf diese Weise den Menschen etwas mitteilen, sie zurechtweisen oder jetzt gar eher strafen? Eine Gänsehaut kriecht ihm über den Rücken. Gleich ihm ergeht es auch seinen Kameraden. Aschfahlen Gesichtes stehen sie wortlos wie gelähmt neben ihm und starren sie gebannt auf den nun ihnen unheimlich gewordenen Stein.
Urplötzlich verdunkelt sich der Himmel. Allein der Fels schimmert in einem fahlen Licht. Wie festgenagelt verharren die Männer auf ihrem Platz. Im leuchtenden Schimmer erkennen sie zwei zierliche beflügelte Wesen von der Größe eines halbwüchsigen Kindes. Sie hocken oben auf dem Stein und sehen sie unendlich traurig und vorwurfsvoll an. Es sind Piri und Emir, zwei Elfenjungen, die die Elfenkönigin ausgesandt hatte, um den Menschen ins Gewissen zu reden. Oder sie, wie es in diesem Falle nötig gewesen ist, auch streng für ihre Rücksichtslosigkeit zu strafen.
"Weshalb nehmt ihr uns unser Zuhause?", fragt Piri mit zittriger Stimme. Er scheint der Jüngere der Beiden zu sein.
"W...Woher sollten wir ahnen, dass...?", stottert Gunnar, immer noch wachsbleich um die Nasenspitze herum.
" Ahnen?", entgegnet Emir scharf, "die Meisten von euch glauben doch an uns und wissen, dass wir in Felsen hausen. Warum habt ihr nicht versucht, vorher mit uns Kontakt aufzunehmen. Dann hätten wir alles gütlich regeln können?!"
Gunnars Begleiter haben ihre Sprache wieder gefunden: "Also, ihr macht es euch aber sehr einfach! Schließlich ist das unsere Stadt. Wir brauchen diese Straße als Verbindung zur nächsten Ortschaft. Die Entfernungen hier in dieser Gegend kennt ihr ja sicherlich selbst!"
"Die Elfenkönigin lässt euch sagen: Bleibt dieser Stein nicht hier liegen, wird sich die unsichtbare Welt wegen eurer Rücksichtslosigkeit furchtbar an euch rächen. Krankheit und Tod werden die Bewohner dieser Stadt dahinraffen. Überdenkt ihr euer Vorhaben aber nochmals, so werden wir auf ewig eure Freunde sein und euch helfen, wann immer Hilfe angesagt ist."
"Ihr habt doch hier ganz viel Platz!", wirft Klein-Piri fast schüchtern ein. "Baut doch die Straße ein paar Meter weiter weg. Dann bekommt ihr, was ihr wollt und wir können trotzdem hier wohnen."
"Genau!", ergänzt Emir mit Nachdruck. "Überlegt es euch gut. Ist unsere Königin wütend, ist mit ihr nicht zu spaßen!"
" Und es wär` doch so schön, wenn wir in Frieden nebeneinander leben könnten. Ohne Streit und Krieg!", meint Piri, durch die Unterstützung seines Freundes etwas mutiger geworden.
Verblüfft, nein erzürnt steht Gunnar dort, will seiner Empörung Luft machen. Aber die Zauberwesen geben ihm keinerlei Gelegenheit dazu, setzen stattdessen noch eins obendrauf: "Morgen kommen wir wieder. Bis dahin müsst ihr euch entscheiden!" Während sie noch reden, senken sich lichte Nebelschwaden auf sie nieder, umhüllen die zarten Körper, die selber zu Schlieren werden und sich schließlich gänzlich im Nebel verlieren. Sie sind verschwunden und nichts erinnert mehr an die Besucher aus jenem sagenhaften Zauberreich.
Verwirrt blickt Gunnar in die neuerliche Finsternis, richtet sein Auge fest auf den Stein, der soeben noch Ort einer unirdischen Erscheinung gewesen ist. Die Vernunft des Mannes wehrt sich, möchte sie als Einbildung aus Fantasie heraus abtun. Doch sein Gefühl läst das nicht zu, zwingt ihn, endlich als wirklich zu akzeptieren, was das Menschengeschlecht nur allzu gerne der Traumwelt zuspricht. Ist es der Wille, als Herr allen Seins zu gelten, unbesiegbar und fast allmächtig? Oder...sind es die verborgenen Ängste im Menschen, anerkennen zu müssen, dass nicht er der alleinige Beherrscher des Lebenskarrusells ist, sondern es Wesen geben könnte, die eventuell auf andere Art noch weiser und mächtiger sind als wir Erdenbürger?
Keinen Abstand findet dieser Mensch von all dem Erfahrenen. Wie in Trance macht er sich auf den Heimweg, ganz in seine eigene Gedankenwelt verstrickt, nicht offen für Fragen der Umstehenden, die hiflos nach Antworten forschen, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden und das Gefühl der Unsicherheit der Situation gegenüber endgültig abschütteln zu können.
Gunnar würdigt sie keines Blickes, strebt seinem Hause zu. Es kommt, wie es kommen muss: Er findet kaum Schlaf in dieser Nacht, wälzt sich von wirbelnden Gedankenstürmen geplagt auf seinem Lager hin und her. "Woher nur nehmen sich diese Wesen das Recht, aus einer für uns unbegreifbaren geheimisvollen fremden Welt sich uns aufzudrängen, uns zu bedrängen und sogar noch Forderungen zu stellen?" Die Erklärung für diese Frage bleibt im Nebel, im Nebel wie das ganze Geschehen überhaupt. Bevor er endlich erschöpft einschläft, stellt er sich die Frage: " Sind wir im Recht oder sie? Haben wir mehr Anspruch auf alles als diese Elfen?"
Die Nachtruhe ist heilsam für sein aufgewühltes Gemüt. Am nächsten Morgen ist er sich sicher: "Wir Menschen dürfen uns nicht über Andere erheben, nur weil sie für uns fremd und undurchschaubar sind!" Da er sich dessen klar geworden ist, atmet er freier, macht sich dann froh auf zu dem Treffpunkt vor dem Stein, der nun in seinem Denken zu einem Fels der Weisheit geworden ist.
Klopfenden Herzens wartet er auf die beiden Elfen. Wieder verdunkelt sich der Himmel, nochmals schimmert jenes fahle Licht, ein zweites Mal erscheinen Piri und Emir und setzen sich in erwartungsvoller Haltung oben auf den Stein. Knistern liegt in der Luft. Ein Knistern, dass die Bedeutung der nachfolgenden Minuten vorraussagt, nicht mehr an der Wichtigkeit dieser Unterhaltung zweifeln lässt.
Auch Gunnar empfindet die Spannung. Er strafft die Schultern, schaut seinen Gegenübern fest in die klaren Augen: "Viele Stunden habe ich über alles nachgedacht. Hört meine Entscheidung!" Er sieht ein Aufblinken in Emirs Augen. Ist der Elf etwa fähig, noch unausgesprochene Worte zu erahnen, sie voraus zu spüren? Auch Piri guckt viel fröhlicher als am Tage zuvor. "Ja", sinnt Gunnar nach, "ja, sie wissen bereits, was ich ihnen gleich sagen werde!" Einen Moment lang will die alte Unsicherheit ihn einfangen, ihn niderdrücken. Aber sie hat keine Chance. Gunnars Wille, Kompromissbereitschaft zu zeigen, ist sein Schutzschild, verleiht ihm eine nie gekannte Selbstsicherheit.
"Ich hoffe, du hast eine weise Entscheidung gefällt!?", fordert Emir drängend die den Ausschlag gebende Erklärung.
"Ich bin bereit, mit eurer Königin zu verhandeln, damit zwischen unseren Geschlechtern dann dauerhafter Friede herrscht!"
Nicht länger umhüllt die Drei ein fahles Licht. Der ganze Himmel steht in gleißenden Flammen unirdischer Helligkeit. Gunnar fühlt sich einbezogen in die Freude des Augenblickes, ist selig.
Die Gesichter der Elfen leuchten vor Glück wie kleine Sonnen, deren Strahlen direkt in Gunnars Herz treffen und es erwärmen. Piri und Emir schweben sachte zu ihm herab, stellen sich ganz dicht neben ihn. "Wir haben so sehr darauf gehofft!", flüstern sie mit zittriger Stimme, aus der grosse Innigkeit spricht.
Sie fassen nach Gunnars Händen und halten sie ganz fest. "Schliess Deine Augen und vertraue uns!", bitten sie leise. "Nicht wahr, du vertraust uns doch ...?, wiederholt Klein-Piri noch ein wenig unsicher. Dabei guckt er Gunnar flehend ins Gesicht.
"Ja, ich vertraue euch!" Fest und ohne jegliches Zaudern hat Gunnar geantwortet. Zuneigung zu diesen beiden Wesen hat ihn erfasst, die er doch gar nicht kennt und die ihm doch schon so sehr nahe sind.
Gunnar wartet gespannt ab, was nun geschehen wird. Doch er stellt keine Fragen. Das frisch gespannte Halteseil zwischen ihm und diesen beiden Geistwesen heißt ´Vertrauen` und wischt jegliche Bedenken hinweg. Ein intensiver Wärmestrom fließt von Hand zu Hand. Er beweist die wachsende Zuneigung der Drei zueinander. Allein dieses starke Gefühl macht das Kommende möglich.
"Es wird allerhöchste Zeit!", drängt Emir. "Piri, sind wir nicht rechtzeitig zurück, wird die Königin sehr ärgerlich und wir dürfen garantiert nicht am Elfendinner teilnehmen!" "Wie ... waas? Elfendinner ...??", stottert Gunnar verdattert. Nur mit eisernem Willen schafft er es, seine Augen nicht doch vor lauter Erstaunen weit aufzureißen. Doch er weiss, dass damit der Zauber gebrochen wäre. Alles wäre umsonst gewesen und die Elfen würden zu Feinden der Menschen auf ewig. " Ach ...", seufzt Piri. "So etwas Schönes kennt ihr in eurer Welt natürlich nicht!" In seiner Stimme schwingt Mitleid. "Auf prächtig gedeckter Tafel werden die köstlichsten Leckereien aufgetischt. Erlesener Blütennektar, feine Beerensäfte, Milch und Honigtorte!" "Wir Elfen wissen auch, was gut schmeckt!", setzt Emir lachend hinzu. "Aber nun los!"
Die Elfen schauen zum Himmel. Ihr Blick verliert sich in der schier unendlosen Weite. Emir flüstert: "Königin, unsere Mutter, wir kommen und bringen große Freude mit!" Sie tun ein paar graziöse Schritte, beginnen zu schweben, Gunnar in ihrer Mitte. Er fühlt sich froh und frei. Leicht und immer leichter ...
Von all dem ahnen die Menschen auf der Erde nichts. Sie sehen nur den plötzlichen Nebel, der den Stein dort an der Straße umhüllt, nichts sonst. Merkwürdig. Hatten sie nicht vor ein paar Sekunden noch einen Mann da so nachdenklichen Gesichtes stehen sehen? Wo ist er nur geblieben?
Ja, es sind nur wenige Sekunden gewesen, die Gunnar seiner Welt entrückt haben. Einer Welt ständiger Hektik, der Konflikte und Kriege. "Du darfst deine Augen jetzt aufmachen!", sagt da Emir zu ihm. Nur zu gerne folgt Gunnar dieser Aufforderung, blinzelt ins Helle. Kein einziges menschliches Wesen vor ihm hat jemals den Traumhimmel des Elfenreiches bewundern dürfen. Schwebend durchtanzen die Drei rosa farbene Traumwolken, deren Ränder von den Sonnenstrahlen rotgülden gefärbt werden. Sie scheinen ganz allein zu sein. Stille, kein Laut ist zu vernehmen.
Viel zu schnell geht alles, viel zu rasch sind sie am Ziel. Gunnar erkennt unter sich die Berge. Felsen an Felsen bis hin zum Horizont. "Eigenartig!", entfährt es ihm. "Wieso?" fragt Piri zurück. Jetzt ist es an dem Elfen, erstaunt zu sein. "Die Berge sehen aus wie unsere", stellt Gunnar fest. "Es sind eure Berge!", bekräftigt Emir. "Es ist wahr, was die Sagen erzählen: Diese Berge sind unsere Heimat."
Sie schweben herab und landen auf einem schmalen Weg hoch oben direkt unter dem Grat eines riesigen Felsens. Kein Baum, kein Strauch, nur nackter Stein. "Wir sind da!", bemerkt Piri zufrieden. Aber hier sind sie nicht länger allein. Vor ihnen sitzt ein winziges Wesen. Sein Körperchen sieht aus wie eine Baumwurzel, sein Gesichtchen wie das eine Hutzelweibleins. "Na, gottlob seid ihr pünktlich. Wir warten schon alle auf euch!" Ein bisschen vorwurfsvoll klingt sein knarriges Stimmchen, doch dann bemerkt der Winzling Gunnar. "Hiillfe! D...das ist doch ein Mensch. Was sucht der denn hier??" "Keine Angst, Wurzel! Er wird mit der Königin verhandeln, damit endlich Frieden zwischen unseren Völkern herrscht." "Seid ihr euch da auch sicher?", bibbert Wurzel vor sich hin. Seine knorpeligen Beinchen zittern wie Espenlaub. "Wurzel ist eines unserer Wurzelmännchen. Ein ganz lieber Kerl, der etwas weiter unten an der Waldgrenze wohnt und den Bäumen Gesellschaft leistet, die doch sonst sehr einsam wären. Jeden Abend kommt er ins Schloss, denn das Elfendinner will er sich nicht entgehen lassen. Da fallen immer ein paar Leckereien für ihn ab." Wurzel mustert Gunnar. Gunnar mustert Wurzel. Beide kommen zu dem Ergebnis, man könne es ja ´mal miteinander versuchen.
Das Wurzelmännchen gräbt sich langsam Schrittchen für Schrittchen weiter auf den Felsen zu. Nach ein paar Metern blieb es vor einem riesigen Tor stehen. Emir streckt seinen Arm aus und berührt es mit der Hand. Lautlos schieben sich die Torhälften auseinander und gaben den Blick frei auf einen langen engen Gang, der in die Tiefe führte. Dicht hintereinander betraten die Vier, Wurzel als Letzter, diesen Tunnel. Laternen brauchten sie nicht. Sobald sie alle drinnen stehen, leuchten plötzlich die Elfenkörper wie kleine Sterne, so dass das bedrohliche Dunkel verdrängt ist. Tiefer und tiefer geht es hinab. Gunnar erscheint es wie eine Ewigkeit, bis sie endlich vor einem zweiten Tore Halt machen. Diese Tür ist nicht grau, sondern von hellem Rosenrot, der Farbe der Liebe. Es ist der Eingang zum Elfenschloss.
Gunnar ist aufgeregt. Hinter dieser Türe wird sich ihm eine andere Welt auftun. Eine bessere? Oder sind die vielen Sagen und Legenden um die Elfen eher Rosen, die den menschlichen Seelen zuliebe ihre Dornen verdeckt hielten, um ihnen Rückhalt und Stärkung zu sein in der bisweilen harten Wirklichkeit? Er gibt sich zu, er wäre zutiefst betroffen, wenn sich alles als schmeichlerische Lüge herausstellte. Gunnar lebt eben in der Erwartung von etwas überirdisch Schönem, wie es sich seiner Meinung nach für ein richtiges Zauberreich geziemt.
Ein zweites Mal auf dieser Reise nehmen Piri und Emir ihren menschlichen Kameraden in die Mitte: "Niemand aus dem Menschenreich durfte bisher eintreten in dieses Heiligtum, unseren Palast und gleichzeitig das Haus unserer Königin. Erweise Dich dieser Ehre würdig!" Der kleine Wurzel hat sich während dieser feierlichen kurzen Rede langsam bis zu dem Tor vorgearbeitet. Vor Gunnars Füßen setzt er sich nieder, um zu verschnaufen. Schließlich ist es sehr anstrengend, sich auf solch knorrigen Beinen fortzubewegen. Gunnar sieht dem kleinen Kerl an, wie sehr ihn des Elfen Worte berührt haben.
Nicht nur, dass sein Gesichtchen noch verschrumpelter ist als sonst. Nein, er versucht, sich ganz gerade aufzurichten, um diese Stunde zu achten. Aber er ist nun einmal nur ein Wurzelmännchen und Wurzelmänner haben schnörkelig gekrümmte Beine. Also sind seine Bemühungen auch nicht gerade von großem Erfolg gekrönt. Verlegen legt er den Kopf in den Nacken und grinst Gunnar ganz besonders freundlich an - sozusagen zum Ausgleich. Gunnar versteht und lächelt herzlich zurück. Ja, unsympathisch sind sie sich eigentlich schon lange nicht mehr.
"Wurzel, wir sind bereit!" Piri stupst das kleine Wesen sanft an. Wurzel versteht sofort, wendet sich zum Eingang und klopft mit einem seiner Ärmchen kräftig gegen das Tor. Es dauert nur einen winzigen Moment. Dann ziehen sich die beiden Türhälften in den Felsen zurück. Gunnar traut seinen Augen nicht. All seine Elfenwelt-Träume ziehen nochmals blitzschnell an ihm vorbei. Sie sind wundervoll gewesen. Er ist freundlichen Märchenwesen begegnet und durch Bilderbuchlandschaften voller atemberaubender Farben spaziert. Doch nichts davon ist vergleichbar mit dem, was er hier sieht. Es ist tausendmal prachtvoller als alles, was er sich je vorgestellt hat.
Es ist ein Felsensaal, mindestens vier Meter hoch mit einem reich mit Gemälden geschmückten Deckengewölbe. Sie stellen Wälder, Blumen und Meere dar, die im Licht glühenden Morgen- oder auch Abendrotes baden. Gunnars bewundernder Blick wandert zur höchsten Stelle der Decke und bleibt dort fasziniert haften. Dort ist eine riesige Glaskuppel eingelassen, durch die das Tageslicht den ganzen Raum in sanftes Licht taucht. "Wir befinden uns hier demnach direkt unter einem Felsplateau!", folgert Gunnar. An den Längsseiten des Saales reihen sich großzügige Sitznischen aneinander, in denen zierliche Sofas mit golden verschnörkelten Lehnen und purpurroten Polstern stehen. Vor jedem Sofa findet man ein niedriges Tischchen. Auf dem Tisch steht ein kleiner Leuchter mit einer dunkelroten Kerze. . Neben jedem Sofa stehen romantische Pflanzenkübel, in denen sich abwechselnd dichte Efeubäume und elegante hoch gewachsene Palmen dem Lichte entgegen strecken. Die Form ihrer Wedel erinnert Gunnar an die Elfenflügel. Es sind allerdings sehr viel kräftigere Flügel und so lang, dass sie in sanftem Bogen als grüne Schilder die Sofas und ihre Nutzer beschützen. Was wäre ein Elfenpalast ohne sie? Denn Elfen sind Naturgeister und alle Pflanzen ihre Freunde.
Mitten im Saale steht ein langer, wunderschöner Tisch. Auf ihm entdeckt Gunnar die herrlichsten Speisen und Getränke. Es ist genau so, wie es die Elfen beschrieben haben. Dekoriert ist die Tafel mit Lilienblüten in allen Regenbogenfarben. Jede Schüssel und jeder Teller ist mit einer solchen Blüte geschmückt. Zwei grazile Kerzenleuchter runden das Bild charmant ab. Gunnar kann sich nicht satt sehen an allem. Sein Blick wandert betört von diesem zauberhaften Bild wieder und wieder aufs Neue quer durch den Raum.
Da fällt ihm ein kleines Podest am gegenüberliegenden Ende des Saales ins Auge. "Dort steht der Thron unserer Königin!", flüstert Emir voller Stolz. Anders als die Sitzgelegenheiten des Elfenvolkes ist dieser ganz von Blüten umrankt. Es sind Orchideen und Rosen, die mit ihrem charmantem Äußeren als einzig würdiger Rahmen den Platz ihrer Gebieterin umschmeicheln.
"Du hast vorhin so gedrängt und jetzt sind wir die Ersten!", stellt Gunnar ein wenig mürrisch fest. "Mein Volk wird jede Sekunde eintreffen. Es ist die Stunde der innigen Gemeinschaft. Das lässt sich kein Elf entgehen", besänftigt Emir ihn. "Wo bleiben sie denn nur, ob sie sich bei den Bienchen vertrödelt haben?" Piri tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und zurück. Er hat offensichtlich gehörigen Kohldampf. Begehrlich schielt er zum Tisch. Ob er vielleicht...? "Wehe!", errät Emir die Gedanken seines kleinen Freundes. "Es wird erst gegessen, wenn alle da sind!" Beschämt senkt Piri den hochroten Kopf zu Boden. Sogar Elfenkinder bekommen da rote Wangen.
Der Bub soll bald seinen Hunger stillen können. Plötzlich öffnen sich in den Längswänden des Saales ganz viele Türchen, die vorher selbst Gunnars ach so neugierigen Blicken verborgen geblieben sind. Große, kleine und noch kleinere Mädchen trippeln fröhlich herein. Sie tragen weich fallende, leicht ausgestellte Kleidchen in hellen Pastelltönen. Passend dazu haben sie sich die Ränder ihrer hauchzarten Flügelchen geschminkt. Auf dem gelbgelockten Haar sitzen hübsche Hütchen mit breiter Krempe. Damit sehen sie aus wie kleine Damen. Die Kinder legen die Arme umeinander und trippeln mit grazilen Schritten von Sofa zu Sofa, bis jedes von ihnen seinen Platz gefunden hat. Dann sinken sie auf das weiche Polster, zupfen ihr Kleidchen sorgfältig zurecht und falten die kleinen Hände im Schoss zusammen. Die Gesichter zum Thron gewandt, warten sie guterzogen so auf ihre Königin.
Sie müssen sich noch ein wenig gedulden. Denn noch fehlen die Elfenbuben. Die nehmen es, ähnlich wie die Menschenjungen, manchmal mit der Pünktlichkeit nicht so genau. So oft hat die Königin deswegen schon mit ihnen gehadert und ihnen kein Stück von der Honigtorte erlaubt. Ganz bedröppelt haben die Schlingel jedesmal ihre Flügel gesenkt und Besserung gelobt. Aber immer wieder geht der Übermut mit ihnen durch.
Heute ist es gottlob anders. Nur eine knappe Minute verspäten sie sich. "Ihr seid ja richtig früh dran!", neckt sie ein Elfenmädchen. Es ist ein besonders hübsches Kind und vielleicht deshalb auch etwas kecker. "Ein Bienchen hätte fast nicht mehr nachhause gefunden. Dem mussten wir doch helfen. Es war wohl zum aller ersten Male ausgeflogen!", rechtfertigt sich ein kleiner Elf.
Damit man sie auch an ihrem Äußeren unterscheiden kann, tragen die Elfenjungen anstatt Kleider weiße Kittel über lindgrünen oder hellblauen Kniebundhosen. Doch junge Männer sind eitel. So haben auch ihre Flügel farbige Ränder. Die Buben stürmen, nicht ganz so anmutig wie die Mädchen, zu ihren Plätzen, streichen die Kittel hastig glatt, weil sie hoffen, auf ihre Königin einen guten Eindruck zu machen und dann ein feines Lob einzuheimsen.
Plötzlich entdeckt einer von ihnen Gunnar, der zusammen mit Piri und Emir amüsiert das Treiben der Kleinen beobachtet. Prompt ist die gute Erziehung vergessen. Obwohl das da den Elfenkindern streng untersagt ist, springt der Bub auf und nähert sich zögernd den Dreien. All seinen Mut nimmt er zusammen. Die Neugierde lässt ihm keine Ruhe: "W...Wer bist denn Du? Wie kommst Du hierher?" Doch dann dämmert es ihm langsam, wen er da vor sich hat. In seinem Gesicht liest Gunnar deutliches Misstrauen: "Du...du kommst aus dem Menschenreich, stimmt`s? Unsere Königin hat uns erzählt, dass ihr manchmal so böse seid!"
Da mischt Emir sich ein: "Du musst dich nicht fürchten!" Der Elf deutet auf Gunnar. "Er ist nicht so wie viele von denen. Er möchte, dass zwischen den Menschen und uns endlich alles gut wird." "Wirklich?", strahlt das Elfenkind. "Dann find ich dich nett." Spricht`s und hopst flugs auf seinen Platz zurück. Keine Minute zu früh, denn in diesem Augenblick ertönt eine zarte Musik im Hintergrund. Es ist das Grillenorchester, das, hinter dem Thron auf der untersten Stufe des Podestes stehend, der Königin zu Ehren sein schönstes Konzert anstimmt.
Hinter den fleißigen Musikern öffnet sich lautlos eine goldene Türe. Es erscheint die Herrin dieses Reiches, die Mutter all jener süßen Elfenkinder. Sie zu sehen, versetzt Gunnars Herz in Aufruhr. Es klopft wie verrückt.
Die Elfenkönigin ist eine wunderschöne Frau. Sie hat ein schmales Gesicht mit edlen Zügen und Augen, aus denen Güte und Weisheit sprechen. Ihre schlanke Figur umspielt ein strahlendweißes Kleid. Ihre Flügel sind mit Sternchen und kleinen Monden übersät, die Sinnbilder für Stille und Frieden. Leicht wie eine Feder schreitet sie auf ihren Thron zu. Bevor sie sich setzt, richtet sie das Wort an die Elfchen, deren Augen an ihren Lippen hängen. "Ein arbeitsreicher Tag geht zu Ende. Wie schön, dass wir alle zusammen sind. Und nun lasst es euch gut schmecken, meine Kinder!"
Emir lädt Gunnar ein, von den Leckereien zu kosten. Doch der hat ganz andere Sorgen. Wie wird die Unterredung verlaufen? Wird alles ein gutes Ende finden? Nach dem Dinner führt Emir ihn zum Thron der Königin. "Gebieterin, dieser Mensch möchte dazu beitragen, dass unser beider Völker in Freundschaft nebeneinander leben." Die Königin lächelt erfreut. "In deinem Herzen lese ich, dass da noch eine wichtige Frage offen ist. Nur Mut, ich will dir antworten!"
Zunächst redet Gunnar noch etwas stockend: "Königin, ihr wart erzürnt und habt uns mit Unglück gestraft, weil wir nur an unseren eigenen Vorteil gedacht und darüber die Bedürfnisse eures Volkes vergessen haben. Ich habe lange darüber gegrübelt und den Entschluss gefasst, die Straße so um den Felsen herumzubauen, dass deine Kinder dort weiterhin wohnen können." "Ich bin sehr glücklich darüber, dass ein Wesen aus eurer Welt Einsicht zeigt und sich so weitere Auseinandersetzungen und Kriege erübrigen. Wir Elfen sind ein friedliebendes Volk, das Streitereien hasst; es sei denn, es geht um die Grundrechte eines jeden Lebewesens. Zu diesen Rechten zählt auch das Recht auf Heimat. Aber, ... deine Frage hast du mir noch immer nicht gestellt!?"
Gunnar sammelt sich, wählt jedes seiner Worte mit Bedacht. Schließlich will er die Königin keinesfalls verärgern. "Bitte, könntet ihr mir erklären, wieso ihr euch das Recht heraus nehmt, in unserer Welt, die für euch fremd ist, Ansprüche zu erheben, uns zu bedrängen und uns zu nötigen, damit wir nach eurem Willen handeln?"
Einen Moment lang schweigt die Königin. Sie sieht Gunnar ruhig in die Augen. Dann antwortet sie: "In eurem Leben stürmt sehr viel Schönes, aber auch sehr viel Schweres auf euch ein. Eure Seele braucht Vorstellungen und Träume, um all diese Eindrücke zu ertragen, verarbeiten zu können. Oft spiegeln Träume Zufriedenheit, Freude und Glücksempfinden wieder. Genauso können sie auch in schweren Tagen Tränen trocknen. Ohne Träume würde die menschliche Seele kranken und verkümmern."
Sie macht eine kurze Pause. Dann fährt sie fort: "Wir Elfen sind ein Teil eurer Traumwelten. Der Gedanke an uns entrückt euch den Problemen, gibt Halt und Freude. So sorgen auch wir für euer inneres Wohlbefinden. Weil dem so ist, sind auch wir Teil eurer Welt und haben dort in gleichem Maße Heimatrecht wie ihr? Während sie noch redet, wird die Stimme der Königin leiser und leiser. Gunnar ist verwirrt. Die Gestalten der Königin und all dieser zauberhaften Wesen verblassen langsam, bis sie im Tageslicht aufgehen. Da gibt es keine Gebieterin der Träume, kein Elfenvolk und auch kein Märchenschloss mehr.
Gunnar steht wie verloren da. Für ein paar Sekunden ist seine Seele noch gebannt im Zauberreich. Doch dann hebt er den Blick, schaut um sich und findet so allmählich zurück in die Realität. Er sieht sich selbst vor diesem Stein, neben sich seine beiden Mitarbeiter. Die Männer stehen dort gesund und munter wie vordem ... Zwei unwissende Menschen, denen eine Frage auf der Zunge brennt. Aber sie wagen es nicht, ihren Chef in seinen Überlegungen zu stören.
Gunnar weiss, dass er nicht nur geträumt hat. Ihm ist etwas Wunderbares geschenkt worden. Ein kurzer Blick in seine eigene Seele, die ihm die einzig richtige Lösung ihres Problems nahe gebracht hat.
Er schaut seinen Mitarbeitern fest in die Augen und bestimmt:
"Wir bauen um den Stein herum!"
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