Einen Teil der Sommerferien darf Werner bei seiner Grossmutter verbringen. Die Grossmutter wohnt zusammen mit ihrem Sohn und dessen Familie auf einem Bauernhof in den Bergen. Hier gibt es für Werner allerhand zu sehen und zu erleben. Mit seinem Vetter Günther und der Kusine Karin unternimmt er jeden Tag neue Streifzüge. Die saftigen Weiden, der gurgelnde Bach und der nahe Wald, fordern geradezu auf erforscht zu werden. Heute wollen sie Indianer spielen. Aber als waschechter Indianer braucht man auch einen richtigen Federschmuck. Und diesen wollen sich die drei aus Grossmutters Hühnerstall besorgen. Aber dazu benötigen sie einen Plan. Die Grossmutter sieht es nämlich überhaupt nicht gerne, wenn sich die Kinder dort aufhalten. Denn der Hühnerstall wird von einer sehr launischen Truthenne argwöhnisch bewacht. Diese wartet nur darauf mit ihrem scharfen Schnabel auf Eindringlinge einzuhacken. Zudem ist das "Hühnerparadies" eingezäunt und befindet sich auf der Seite des Küchenfensters. Ein falscher Laut würde genügen um der Grossmutter zu verraten, dass sich Fremdlinge in verbotenes Territorium vorgewagt haben. Dies wiederum würde auslösen, dass die noch sehr rüstige Grossmutter mit einer Kochkelle bewaffnet zum Sturmangriff übergehen würde. Und diese Kochkelle hatte schon jedes der Drei mindestens einmal zu spüren bekommen. Sie beschliessen, dass einer von ihnen die Henne ablenkt und die beiden anderen sich ins Hühnerhaus schleichen und dort die auf dem Boden liegenden Federn einsammeln. Da sich Günther mit der Truthenne am besten auskennt, übernimmt er das Ablenkungsmanöver. Vorsichtig schleicht sich das Trio zum Zaun. Behutsam öffnet Günther die Zauntüre und zwängt sich hindurch. Leider bleibt das Eindringen aber nicht unbeobachtet. Die Truthenne hebt den Kopf und marschiert mit glucksenden Lauten schnurstracks auf Günther zu. Günther bleibt stehen und flüstert beruhigend auf die Pute ein. Aber die Truthenne lässt sich nicht beirren und pickt auf Günthers Schuhe ein. Diesen Moment nutzen Werner und Karin um hinter Günthers Rücken in den Hühnerstall zu eilen und im Schnellzugstempo einige Federn vom Häuschenboden aufzusammeln. Für Günther indessen wird es immer ungemütlicher. Er hüpft von einem Bein auf das andere, weil sich die Pute mit ihrem scharfen Schnabel an seinen Beinen zu schaffen macht. - Endlich haben Werner und Karin genügend Federn gesammelt und können den Rückzug antreten. Wäre es nicht eine sehr ernste Angelegenheit, hätten sich Werner und Karin ob Günthers Luftsprüngen vor Lachen gekringelt. Günther hätte sicherlich eine Goldmedaille im Steptanzen gewonnen. Vorsichtig schleichen sie sich wieder hinter Günthers Rücken aus dem Truthennengehege. Und bevor die Pute erneut auf Günther einhacken kann, rettet sich dieser mit einem gewaltigen Sprung aus der Gefahrenzone und macht sich aus dem Staub. Nach dieser abenteuerlichen Federschmuckbeschaffungsaktion gönnen sich die drei erst einmal eine kleine Verschnaufpause. Auf dem Heuboden der Scheune ruhen sie sich von der schweisstreibenden Unternehmung aus, und basteln sich einen Kopfschmuck aus den erbeuteten Federn. Dann machen sich die frischgebackenen Indianer auf für einen Erkundungsgang über die Weide. Als sie sich dem Rande der Weide nähern, der durch einen Stacheldrahtzaun die Weide von einem gewaltigen Abgrund trennt, erörtert Werner seinen Freunden seine Idee. Wichtig baut er sich vor seinen Mitindianern auf und erklärt mit gekünstelt tiefer Stimme: "Ein richtiger Indianer muss beweisen, dass er Mut hat! Kommt mit ich will euch etwas zeigen!" Günther und Karin folgen Werner bis zur Abschrankung. Dort gucken sie über den Zaun in den gähnenden Abgrund. Einige hundert Meter fällt die Felswand steil ab. "Was meint ihr", fährt Werner fort, "es wäre doch eine echte Mutprobe, wenn wir an dieser Felswand ein Stück hinunter klettern würden?" Für eine Weile sind Günther und Karin sprachlos. Karin fasst sich zuerst wieder und erklärt Werner in strengem Ton: "Du weisst doch, dass uns die Eltern und auch die Grossmutter ausdrücklich verboten haben über den Zaun zu klettern. So etwas wäre lebensgefährlich!" Trotz des grimmigen Gesichtsausdrucks seiner Kusine hält Werner an seiner Idee fest. "Das macht die Sache doch erst richtig spannend!" Erwidert er cool. Nun meldet sich auch Günther zu Wort und gibt Werner zu bedenken, dass dies nichts mit Mut, sondern eher mit grobem Leichtsinn zu tun habe. Aber das kümmert Werner wenig! Mit einem schnippischen "Papperlapapp" wendet er sich von den beiden ab, und kriecht unter dem Zaun hin-durch. Vorsichtig robbt er auf dem Bauch bis zum Abgrund. Aber als er in die Tiefe starrt, wird es dem Grossmaul doch ziemlich mulmig. Laut klopft sein Herz und sein Atem stockt. Noch könnte er zurück. Er braucht sich nur umzudrehen und wieder hinter die rettende Umzäunung zu kriechen. Doch als Feigling möchte er vor seinen Verwandten nicht dastehen. Er sucht sich eine passende Stelle, wo er hinunter klettern kann. Auf einem schmalen Felsvorsprung am Wiesenbord sieht er ein kleines Tännchen. An diesem kleinen Baum hält er sich fest und lässt sich langsam daran in die Tiefe gleiten. Zentimeter um Zentimeter klettert er in den Abgrund bis von ihm nur noch sein Haarschopf zu sehen ist. Nach bangen Minuten erreicht er eine kleine Plattform auf der er abstehen kann. "Komm wieder herauf!" Flehen seine Freunde mit von Angst gezeichneten Gesichtern, "wir glauben dir ja, dass du sehr mutig bist!" Die zwei Geschwister wissen, dass ein Bäumchen das auf einem so kahlen Felsvorsprung steht, keinen grossen Halt bietet. Die Wurzeln können sich ja nirgends richtig verankern und das Tännchen kann jeden Moment ausreissen und Werner mit in die Tiefe zerren. Als Werner nach unten schaut, ist es um seinen Mut geschehen. Er sieht wie einige hundert Meter unter ihm Autos so klein wie Ameisen einer geraden Strasse entlangflitzen. Angstschweiß tritt ihm auf die Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er zum Tännchen empor. Wird es ihn halten können, bis er in Sicherheit ist? - Mit einem Mal wird ihm seine Dummheit bewusst. Werner tut es unendlich leid, dass er nicht auf seine Freunde gehört hat. Leise betet er vor sich hin: "Vater im Himmel bitte verzeih mir, dass ich unartig war. Ich habe mich in eine missliche Lage gebracht. Bitte hilf mir hier wieder raus. Danke - Amen!" Langsam streckt Werner seinen Arm nach dem Tännchen aus. Plötzlich sieht er vor seinem geistigen Auge das Bild, das zu Hause über seinem Bett hängt. Es zeigt einen Schutzengel der seine Hände schützend über ein Kind hält, welches über einem schmalen Steg eine tiefe Schlucht überquert. Dieses Bild verleiht Werner wieder Kraft und neuen Mut. Er ergreift das Tännchen und zieht sich langsam daran hinauf. Minuten des Schreckens kommen ihm wie Stunden vor. Endlich wird sein Kopf über der Wiesenkante sichtbar. Und seine Freunde ergreifen seine Hände und ziehen ihn aus der Gefahrenzone. Alle atmen auf als Werner wieder gesund vor ihnen steht. Trotz seines Leichtsinns können Günther und Karin ihre Bewunderung für Werners Mut nicht ganz verbergen. Und er muss den beiden erzählen wie er sich dort unten gefühlt hat. Aber das Gebet welches er in seiner grossen Angst sprach, blieb ein Geheimnis zwischen ihm und Gott.
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