Neulich war ich im Theater. Man gab: Claus Peymann geht zur Osterzeit ohne Hose auf den Heldenplatz und begegnet beim Warten auf Godot einem schwarzen Pudel - oder so ähnlich. Vielleicht war's aber auch Hamlet auf dem heißen Blechdach? Am Ende waren jedenfalls alle Figuren oben auf der Bühne dem Wahnsinn verfallen oder überhaupt tot, was im Grunde völlig nebensächlich ist, denn, wie so oft, spielte in Wahrheit das Publikum die Hauptrolle:
1. Akt
Der Bühnenvorhang hebt sich unter heftigem Husten, Schneuzen und Räuspern der Theaterbesucher. Die ersten auf der Bühne gesprochenen Worte ersticken in diesem Schleimhaufen. Dann steigt die Aufmerksamkeit, denn eine Tür wird geöffnet und mit einem dumpfen Knall gleich wieder geschlossen. Begleitet von dem auf den Boden gerichteten, nervös zuckenden Strahl einer Taschenlampe betreten die ersten Zuspätkommenden das Theater. Der Platzanweiser weist ihnen ihre Plätze an: Parkett, Mitte links, 16. Reihe, Sitze 9 und 10. Der Mann auf Platz 11 läßt ein ungehaltenes Räuspern vernehmen, was einer Frau in Reihe 17, Platz 13, die gebannt auf die Bühne starrt, ein leicht resignierendes Seufzen entlockt. Zu früh geseufzt, denn die nächsten Zuspätkommenden steuern bereits die Reihe 9 an - gleichfalls Mitte links -, und auch aus den Logen 3 und 7 dringt Türenschlagen und Sesselrücken. Während die in Loge 7 anwesenden Personen ihrem Unmut durch bewährtes Räuspern Luft machen, bleibt es in Loge 3 auffallend still. Dies ist wohl durch das Erscheinungsbild des Neuankömmlings zu erklären, der beim Freistilringen eine bessere Figur machen würde als im Theater.
Soeben scheint sich die Lage zu beruhigen, als rechts oben auf der Galerie ein Lichtstrahl aufblitzt, der nichts Gutes verheißt. Tatsächlich gelingt es einer Nachzüglerin auf dem Weg zu ihrem Sitzplatz, einer Besucherin auf die Zehen zu steigen. Glockenhell ertönt deren junge, nicht unsympathische Sopranstimme durchs Theater - wenngleich sie im Unterton zu sehr die Tochter aus gutem Hause mitschwingen läßt. Noch dazu, wo sie mit dem soeben giftig hinausgezischten Trampel! die Qualität ihrer Herkunft hörbar in Frage stellt. Die weitere Diskussion zwischen den beiden Kontrahentinnen geht in einem ebenso lautstarken wie aktionsreichen Bühnendialog unter.
Den Schauspielern gelingt es freilich nicht, die Zuschauer damit zu fesseln, sondern etliche nützen den erhöhten Lärmpegel, um die zweite Hust-, Schneuz- und Räusperrunde einzuleiten. Im Parkett links, 6. Reihe, Sitze 1 und 2 werden Liebesworte geflüstert, in Loge 8 streiten zwei ältere Damen darüber, ob der nächste Musikantenstadl in Vancouver oder vielleicht doch in Hinterstoder stattfindet. Das von der Galerie Mitte, Reihen 5 und 6 herabquellende Getuschel und Gekichere läßt auf eine zur Kultur zwangsverpflichtete Schulklasse schließen. Die Frau in Reihe 17 seufzt nun in regelmäßigen Abständen. Meine sprechende Armbanduhr gibt bekannt, daß es soeben 20 Uhr, 0 Minuten und 0 Sekunden geschlagen hat. Auf dem 1. Rang rechts, 1. Reihe, Sitz 1 findet ein Hustenanfall statt, der nach Bronchitis klingt und im Bett wohl besser aufgehoben wäre. Im Parkett, Mitte links, 5. Reihe, Sitz 9 wird das erste Zuckerl des Abends ausgewickelt: Nimm 2. Das läßt für den nächsten Akt alles offen.
2. Akt
Die Unterbrechung zwischen 1. und 2. Akt war so kurz, daß die ersten Worte auf der Bühne zwangsläufig im neuerlichen Husten, Schneuzen und Räuspern des Publikums untergehen. Auch werden wichtige Botschaften ausgetauscht, die keinen Aufschub erlauben, etwa: Ich hab' für morgen doch noch einen Termin bei der Fußpflege bekommen, oder: Mir tut mein Hintern weh, oder auch: Also, ich hab' ja 1956 in Hinterstoder meinen Karli kennengelernt.
Als etwas Ruhe eintritt, breitet sich im Parkett eine Duftwolke aus Zwiebel und Fett aus, deren Ausgangspunkt irgendwo zwischen den Reihen 10 bis 15 liegen muß, und die auf einen McDonald's-Besuch und folglich auf einen Kulturbanausen schließen läßt. Andererseits ist es schon wieder eine bewunderungswürdige Kunst, die drückenden Magengase den ganzen 1. Akt lang im Zaum gehalten zu haben. Nun, da sie die Freiheit wiedererlangt haben, sorgen sie jedenfalls für Unruhe im Parkettpublikum, die aber vom anschwellenden Getuschel und Gekichere der Schulklasse auf der Galerie übertönt wird.
Auf dem 2. Rang rechts stimmt ein Handy den Radetzkymarsch an. Der Besitzer, ein Mann in der 3. Reihe, Sitz 8, wühlt hektisch in seinen Sakkotaschen, klimpert mit Schlüsseln und Münzen, findet das Gerät endlich in der linken Hosentasche und stellt es ab. Das ungehaltene Räuspern der Umsitzenden hält noch eine Zeitlang an, weil sie ihre Meinung mit Nachdruck zum Ausdruck bringen möchten. Zugleich kommt Bewegung ins Publikum, denn alle anderen Handybesitzer kontrollieren, ob sie ihr eigenes Gerät ausgeschaltet haben.
Die Situation auf der Galerie eskaliert. Mittlerweile unterhalten sich die Schüler ganz ungeniert, während die Lehrerin vergeblich dagegen anredet. Sie kann auch nicht den Start von zwei Papierfliegern verhindern, von denen einer die Bühne als Landeplatz wählt. Der andere trudelt - offenbar aufgrund eines Konstruktionsfehlers - nach kurzem Flug mitten ins Parkett und trifft auf eine in Reihe 12, Sitz 7 befindliche Dame mit hochtoupierten Haaren. Dort bliebe er wohl stecken, würde sich die Dame jetzt nicht reflexartig auf den Hinterkopf schlagen und dadurch ihre Frisur zerstören. Ihr hysterisch-schrilles Gekreische hätte Tote aufgeweckt, erstaunlicherweise aber nicht den in Loge 3 schnarchenden Freistilringer.
Eine der älteren Damen in Loge 8 wickelt das zweite Zuckerl dieses Abends aus, was den Nimm 2-Lutscher im Parkett daran erinnert, daß er erst eines genommen hat. Auf dem 1. Rang wiederholt sich der bronchitische Hustenanfall aus dem 1. Akt. Die Frau in Reihe 17 seufzt immer noch. Meine sprechende Armbanduhr gibt bekannt, daß es soeben 21 Uhr, 0 Minuten und 0 Sekunden geschlagen hat. Da fällt der Vorhang und gibt das Signal zum Sturm auf Büffet und Toilette.
3. Akt
Die ersten auf der Bühne gesprochenen Worte haben keine Chance gegen den Lärm, den zu spät zurückkehrende Büffet- und Toilettenbesucher verursachen. Nach dem Verebben des ungehaltenen Räusperns der bereits Sitzenden, fällt die ungewohnte Stille auf. Die Reihen 5 und 6 auf der Galerie Mitte sind leer, die Schulklasse hat das Theater verlassen. Nichtsdestotrotz seufzt die Frau in Reihe 17. Dem bronchitischen Huster auf dem 1. Rang rinnt mittlerweile die Nase in Strömen. Als ihm die Taschentücher ausgehen, begibt er sich fluchtartig zum Ausgang, stolpert, schlägt der Länge nach hin und beleidigt dabei offenbar sein Handy, das eine erbärmlich jaulende Version des Walkürenritts anstimmt.
Ein großer Teil der Zuschauer horcht aber ohnehin woanders hin, nämlich in sich hinein, um die unheilvolle Aktivität der mit den Pausengetränken aufgenommenen Kohlensäure in ihren Mägen zu überwachen. Hier und da ist ein unterdrücktes Rülpserchen zu hören, die Grenzen des Anstands werden jedoch nicht überschritten. Dafür hüpfen nun auf der Bühne nackte Männer und Frauen umher, was ihnen vorübergehend die Aufmerksamkeit weiter Teile der Publikums sichert. Sogar die Frau in Reihe 17 unterbricht ihr Seufzen. Nur der Freistilringer ist trotz der zwei Schalen Kaffee schon wieder eingeschlafen und schnarcht friedlich in seiner Loge.
Leider beginnen die Nackten nun, sich gegenseitig abzumurksen, was zwar vorerst die Spannung aufrechterhält, doch nach dem fünften Opfer für die Zuschauer zur Routine wird. Gelangweiltes Räuspern kommt auf, die Frau in Reihe 17 seufzt und der Austausch wichtiger, nicht aufzuschiebender Botschaften wird fortgesetzt, etwa: Eigentlich wollte ich ja zur Kosmetik, aber das Hühnerauge quält mich jeden Tag mehr, oder: Jetzt ist mein Hintern endgültig eingeschlafen, oder auch: Hätt' ich geahnt, zu welchem alten Trottel sich der Karli entwickelt, wär' ich damals besser nach Bad Aussee statt nach Hinterstoder gefahren.
Auf der Bühne wälzen sich mittlerweile nur noch ein paar blutüberströmte Schwerverletzte. Meine sprechende Armbanduhr gibt bekannt, daß es soeben 22 Uhr, 0 Minuten und 0 Sekunden geschlagen hat. Der Nimm 2-Lutscher im Parkett genehmigt sich sein drittes und bietet freundlicherweise auch seinen Sitznachbarn eines an. Der Mann links von ihm kann sich nicht zwischen Zitrone und Orange entscheiden und nimmt letztlich zwei. Ich stelle fest, daß es doch ratsam gewesen wäre, während der Pause die Toilette aufzusuchen. Nervös lasse ich meine Uhr die Zeit ansagen: 22 Uhr, 14 Minuten und 23 Sekunden. Noch zehn Minuten, höre ich zwei Reihen hinter mir jemanden sagen, während ich mir dasselbe denke. Die ältere Dame in Loge 8 spricht jetzt doch wieder gut über die Zeit in Hinterstoder und ihren Karli, denn schließlich ist er ja - Trottel hin, Trottel her - inzwischen tot und begraben.
Tot sind nun auch alle Figuren auf der Bühne, abgesehen von einer Wahnsinnigen, die sich angesichts des Blutbades selber die Augen aussticht. Ich zähle die Sekunden bis zum Ende - und verpasse es dadurch. Die alles übertönenden Bravo-Rufe des Freistilringers schrecken mich aus meiner Konzentration auf. Als er schließlich Zugabe! brüllt, ist klar, daß er sich im falschen Theater befindet. Weite Teile des Publikums haben unterdessen den Wettlauf zur Garderobe gestartet. Als ich hinauseile - vorbei an einem Mann, der mit einem Schlüssel ein matschiges Zitronen-Nimm 2 von seiner Schuhsohle kratzt -, staut es sich bis zu den Toiletten zurück, die aber zum Glück nur schwach frequentiert sind. Durch die dünne Zwischenwand höre ich nebenan auf der Damentoilette die Frau aus Reihe 17 seufzen.
Wieder ist ein schöner Theaterabend zu Ende gegangen. Was gespielt wurde, fragen Sie? Claus Peymann geht zur Osterzeit ohne Hose auf den Heldenplatz und begegnet beim Warten auf Godot einem schwarzen Pudel - oder so ähnlich. Vielleicht war's aber auch Hamlet auf dem heißen Blechdach? Aber im Grunde ist das ja völlig nebensächlich ...
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