Das Große Rennen Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles verblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: Die Leere
und das gezeichnete Ich.
(Gottfried Benn)
Der Mann lief.
Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen.
Immer der gleiche Rhythmus.
Wenn er ihn änderte, bekam er mit Sicherheit Seitenstechen.
Der Mann wußte nicht, wie lange er schon lief, und er wußte auch nicht, wie lange er noch würde
laufen müssen. Es gab nur diesen Tag, und es gab nur diese Etappe.
Natürlich wußte der Mann, daß das Rennen irgendwann zu Ende sein würde, doch er hatte längst
aufgehört, nach dem Ziel zu fragen.
Die Antwort war ohnehin immer gleich: Kopfschütteln und erstaunte Blicke.
Niemand fragte nach dem Ziel.
Erst recht niemand, der schon so lange unterwegs war wie er.
Wenn der Mann sich mit den anderen Läufern seiner Gruppe unterhielt, dann nur über Dinge, die
eigentlich ohne Belang waren.
Über die Qualität der Getränke an der Verpflegungsstelle zum Beispiel, oder darüber, was sie am
nächsten Ruhetag unternehmen würden. Auch über die Unterkünfte wurde gesprochen, und wie
großartig die Aussicht von den höheren Stockwerken sei. Dabei spielte die Aussicht überhaupt
keine Rolle, denn wenn die Läufer am Abend mit schmerzenden Gliedern ihre Quartiere erreichten,
war die Sonne längst untergegangen ...
Über die Schmerzen in seiner Lunge und die Schwindelanfälle nach steilen Anstiegen sprach der
Mann nie. Auch das hatte er gelernt. Wer Schwäche zeigte, machte sich angreifbar. Normalerweise
lief seine Gruppe nicht übermäßig schnell, doch wenn einer der Läufer Schwierigkeiten bekam und
langsamer wurde, zogen die Führenden das Tempo beinahe automatisch an, bis der Betreffende den
Anschluß verloren hatte.
"Bei uns ist kein Platz für Schwächlinge", sollte das wohl heißen, und der Mann richtete sich
danach.
Manchmal, wenn sie abgeschlagene Läufer voranlaufender Gruppen überholten, empfand der Mann
so etwas wie Schadenfreude.
Meist waren es ältere Männer, die dem Tempo der Jüngeren nicht mehr gewachsen waren. Sie
trabten mit schmerzverzerrten Gesichtern und traurigen Augen die Straße entlang und blieben nur
deshalb nicht stehen, weil sie sich schämten. Wenn sie schließlich zusammenbrachen, waren die
Sanitäter rasch zur Stelle und schafften sie weg. Wohin, darüber hatte sich der Mann früher oft den
Kopf zerbrochen, bis er schließlich begriffen hatte, daß auch das ohne Belang war. Wer nicht mehr
laufen konnte, war aus dem Rennen. Punkt und aus.
Doch es gab auch noch andere, deren Verhalten dem Mann Rätsel aufgab. Läufer, denen körperlich
nichts zu fehlen schien, und die dennoch das Rennen aufgaben. Männer mit zornigen Augen, die
plötzlich stehenblieben und die Kampfrichter beschimpften. Manchmal versuchten sie sogar, andere
Läufer aufzuhetzen, doch dann waren meist schon die Streckenposten vor Ort und sorgten für
Ordnung.
Wenn der Mann etwas bewunderte, dann war es die Organisation des Rennens.
Es gab Verpflegungsstände, Streckenposten, Sanitäter, Kampfrichter und ein Komitee, das dafür
sorgte, daß die Quartiere exakt nach der jeweiligen Plazierung vergeben wurden. Jedenfalls glaubte
der Mann das. Nach jeder Etappe passierten die Läufer zunächst eine Versorgungsstelle und fuhren
dann mit dem Lift in ihre Quartiere, wo ihre Familien auf sie warteten. Die Spitzenläufer in die
obersten Etagen und die Nachzügler in die engen, stickigen Unterkünfte im Keller. Wie viele Ebenen
es gab, wußte niemand. Die Spitzenläufer kannte der Mann nur vom Hörensagen, und ihre Namen
wurden stets mit Ehrfurcht ausgesprochen.
Früher war der Mann noch ehrgeiziger gewesen, hatte geglaubt, eines Tages zu den Gewinnern
gehören zu können. Damals war er oft bis zur Erschöpfung gelaufen, hatte viele Läufer überholt
und sich niemals umgeschaut.
Bis Lena ihn verlassen hatte.
Der Mann war erstaunt und beleidigt gewesen, denn eigentlich hatte er es ja nur für sie getan.
Schließlich hatte er dafür gesorgt, daß sie die unteren Ebenen verlassen und eine menschenwürdige
Unterkunft bewohne durften.
Erst später begriff er, daß ihm das Rennen die ganze Zeit über wichtiger gewesen war als alles
andere. Und daß Lena deshalb gegangen war ...
Doch das Rennen ging weiter, und dem Mann blieb wenig Zeit, sich über das Geschehene Gedanken
zu machen. Er lernte Anna kennen, sie mochten einander, und so zog er schließlich mit ihr und den
Kindern zusammen. Im übrigen lief er.
Die Kinder wurden erwachsen und heirateten, und der Mann lief weiter.
Er hatte sich längst damit abgefunden, nicht zu den Spitzenläufern zu gehören. Mittlerweile hatte
er sich sogar daran gewöhnt, überholt zu werden, war es doch nur natürlich, daß Jüngere schneller
und ehrgeiziger waren als er.
Auf die Idee, das Rennen aufzugeben, kam der Mann jedoch nie.
Er lief weiter, egal ob es regnete oder die Sonne vom augustblauen Himmel brannte.
Schließlich brach er an einem der steileren Anstiege zusammen, und die Sanitäter bekamen Arbeit.
Der Wettkampfarzt meinte, sein Blutdruck sei etwas zu hoch und verschrieb ihm Tabletten für sein
Herz. Die meisten Läufer hätten hin und wieder Kreislaufprobleme, und ein Grund zur Aufgabe sei
das noch lange nicht.
Der Mann schüttelte dem Arzt dankbar die Hand, nahm seine Tabletten und lief weiter.
An einem der seltenen Ruhetage besuchte der Mann seine Eltern und stellte erschrocken fest, daß
sie alt geworden waren. Irgendwann hatten sie das Rennen aufgegeben, ohne daß der Mann davon
erfahren hätte. Sie lebten still und zurückgezogen, und es gab wenig, worüber sie sich noch freuen
oder empören konnten. Ihre Gleichgültigkeit machte den Mann nachdenklich und ein wenig traurig.
Er begann, die anderen Läufer genauer zu beobachten, und wenn er in ihren Augen einen Funken
Nachdenklichkeit oder Interesse entdeckte, sprach er sie an.
Die Gespräche bestätigten ihm, was er längst geahnt hatte. Niemand wußte, wo das Ziel war und
wie es aussah. Manche glaubten daran, andere nicht.
Jetzt begann er auch die Männer mit den zornigen Augen zu verstehen. Wenn es kein Ziel gab,
wozu sollte man dann noch laufen? Doch dem Mann fehlte der Mut, es Ihnen gleichzutun. Noch
hatte er etwas zu verlieren. Er hatte keine Sehnsucht nach schmutzigen, verräucherten Kellern,
Ausnüchterungszellen und Schlafkumpanen mit alkoholgeschwänger-tem Atem.
Der Mann lief weiter.
Doch er hörte nicht auf, Fragen zu stellen. Er hatte so viel nachzuholen ...
Wenn er jetzt einen der erschöpften, mutlosen Männer überholte, die so lange an der Spitze
gelaufen waren, empfand er keine Schadenfreude mehr, sondern nur noch Mitleid.
Und wenn die Jüngeren, Ehrgeizigen mit keuchendem Atem an ihm vorbeizogen, lächelte er
nachsichtig und machte ihnen Platz.
Der Mann hatte begriffen, daß das Große Rennen nur eine Fiktion war. Eine Illusion, an die sich die
Menschen klammerten, um nicht wahnsinnig zu werden.
Dennoch lief er weiter.
Seine Lungen schmerzten, und an den Anstiegen wurde ihm schwindlig.
Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen.
Immer der gleiche Rhythmus.
Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr ...
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