Fridolin fühlte sich genervt. Sehr genervt sogar. Hundemüde hatte er spät in der Nacht den Weg ins Schlafzimmer gefunden und sich seufzend in sein Bett gelegt in der Hoffnung, sofort vom erholsamen Schlaf übermannt zu werden. Aber diesbezüglich hatte er Pech gehabt. Nichts war es mit der ersehnten körperlichen und geistigen Erholung. Und das lag nicht etwa an Monika, die leise vor sich hin säuselte und auf Grund einer etwas verstopften Nase leichte Probleme mit der freien Atmung hatte. Das lag auch nicht an der verbrauchten Luft im Raum, die sich auch trotz des gekippten Fensters nicht richtig austauschen ließ. Das lag ganz allein an einem kleinen, unsichtbaren und wieselflinken Störenfried, der sich offensichtlich einen Heidenspaß daraus machte, sich zu dieser spätnächtlichen Stunde auszutoben und dabei Fridolin nach allen Regeln der Kunst auf den sprichwörtlichen Wecker zu gehen.
Egal, ob Fridolin auf der Seite lag, auf dem Rücken oder auf dem Bauch, immer wieder flog eine kleine Mücke ganz nah an einem Ohr vorbei und beglückte ihn mit ihrem zwar leisen, aber umso intensiveren Summton. Manchmal flog sie auch so nah an ihm vorbei, dass sie ihn sachte berührte und kitzelte, und in ganz heroischen Momenten benützte sie sogar sein Gesicht als spontanen Landeplatz, um darauf lustzuwandeln oder ihre zarten Beine aneinander zu reiben. Das waren dann jene Momente, in denen sich Fridolin selber schlug oder den lästigen Störenfried mit einer blitzschnellen Handbewegung zu erhaschen und den Garaus zu machen erhoffte. Doch das brachte alles nichts, denn der einzige Erfolg, der ihm dabei beschieden war, waren Schmerzen und Ärger, der sich von Fall zu Fall steigerte.
Da er den lästigen Flieger nicht erwischen konnte, versuchte Fridolin, ihn auszutricksen. Er zog sich seine Decke über den Kopf hoch, um ihm eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten, und streckte nur mehr die Nasenspitze ins Freie, um die Sauerstoffzufuhr zu gewähr-leisten. Derart geschützt wäre er dann auch fast in Ruhe eingeschlafen. Aber der verwunschene Eindringling war ein sehr cleverer Vertreter seiner Art, und ein findiger noch dazu. Ihm gelang es tatsächlich, die freiliegende Na-senspitze ausfindig zu machen und sie als spontanen Landeplatz zu missbrauchen. Er schien wohl zu ahnen, dass er an dieser Stelle nicht nur besonders geschützt war vor jedweden Anschlägen auf sein Leben, sondern auch blitzschnell durchstarten und flüchten konnte, wenn es die Situation erforderte.
Die Mücke eben an dieser Stelle zu fangen war hoffnungslos, Fridolin begnügte sich mit einer unwirschen Kopfbewegung und atmete tief durch. Doch sein kleiner Widersacher war von einer außergewöhnlich penetranten Lästigkeit und suchte die offene Konfrontation. Da es für ihn offenbar keinen anderen Landeplatz mehr gab, suchte er immer wieder die Nase auf, vielleicht war er ja auch nur übermütig und betrachtete es als Spiel, wenn Fridolin mit seiner Hand vor dem Gesicht herumfuchtelte. Dieser dachte alsbald überhaupt nicht mehr ans Schlafen. Anstatt der so dringend benötigten Erholungsphase anheim zu fallen, wurde er sauer und sein Kampfgeist ge-weckt. Da diesem lästigen Plagegeist auf herkömmliche Weise ganz offensichtlich nicht beizukommen war, musste er wohl oder übel kreativ werden und zu drastischen Mitteln greifen.
Da Monika neben ihm nach wie vor tief und fest schlief, wagte es Fridolin nicht, das Deckenlicht einzuschalten. Er wollte sie nicht wecken, hatte auch keine Lust, mögliche ausschweifende Grundsatzdiskussionen über nächtliche Ruhestörungen zu führen. Und wenn er für ausreichende Beleuchtung gesorgt hätte, hätte er wohl auch nie die freche Mücke erwischt und sie abstrafen können. Sein Konfrontationskurs musste anders aussehen. Hinterlist und erhöhte Wachsamkeit waren stattdessen gefragt, da-zu ein gewisser Überraschungseffekt. Deswegen setzte sich Fridolin auf, stopfte sich sein Kopfkissen ins Kreuz, legte seine Hände auf die Decke und erging sich in dieser Haltung in totale Bewegungslosigkeit. Und er lauerte auf sein potenzielles Opfer wie ein Raubtier auf seine Beute.
Doch der lästige Quälgeist gehörte zu der wirklich cleveren Sorte seiner Art, hatte diese vorbereitende Maßnahmen gegen sich wohl argwöhnisch beobachtet. Er sah sich diese Bedrohung erst einmal in aller Ruhe aus gesicherter Distanz an. Und er ließ sich Zeit. Viel Zeit. Fast schon zu viel Zeit. Fridolin war zu müde, um die angespannte Lauerstellung lange durchzuhalten. Seine Wachsamkeit erlahmte immer mehr, das Kinn näherte sich un-aufhaltsam der Brust. Die Augenlider wurden unerträglich schwer, er konnte sie nur noch mit größter Willensanstrengung kontrollieren. Fast wäre er sogar in seiner sitzenden Stellung eingeschlafen, als die kleine Mücke seiner erlahmenden Wachbereitschaft zu neuer Energie verhalf. Sie hatte genug gesehen und setzte sich erst auf den Rand des Kissens, wechselte dann hinüber zur Decke, um sich die Sache aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Und schließlich setzte sie sich auf Fridolins vom Schlafanzugoberteil nur halb bedeckte Brust. Mut hatte sie, das musste man der kleinen Mücke zweifellos zugestehen.
Just in dem Augenblick, in dem Fridolins Aufmerksamkeit zu Gunsten des Schlafs kapitulieren wollte und er langsam seitlich wegzurutschen drohte zu Monika hin, griff die kleine Mücke wieder ein, diesmal besonders tatendurstig. Erst summte sie wieder besonders intensiv in allernächster Nähe des linken Ohrs, dann benutzte sie es als Landeplatz und Fußweg. Und als sie dann auch noch den Wagemut aufbrachte, um ins Ohr hineinzukrabbeln, war es mit Fridolins Schläfrigkeit schlagartig vorbei. Instinktiv schlug er auf gut Glück zu und dabei so heftig auf sein Ohr, dass der Schmerz ihn zusammenfahren ließ. Nunmehr glockenhell, steckte er sich einen Finger ins Ohr, um das lästige Kitzeln abzustellen und schimpfte in sich hinein. Diese verdammte Mücke war wohl direkt aus der Hölle geschickt worden, um ihn nicht nur zu stechen, sondern auch zu terrorisieren. Zu erwischen war sie aber nicht. Dazu war sie ihm einfach zu überlegen.
Die Mücke fand immer mehr Gefallen an diesem Spiel und nützte ihre Vorteile, die da hießen Schnelligkeit, Überraschungseffekt und Hartnäckigkeit, weiter gnadenlos aus. Immer wieder griff sie an, von allen Seiten, und erfreute ihr Opfer mit ihrem hellen, eindringlichen Sum-men. Fridolin schlug abwechselnd nach links und rechts, klatschte in der Dunkelheit die Hände zusammen in der Hoffnung, schneller zu sein als sein unsichtbarer Gegner und ihm endlich den Garaus zu machen, oder er schlug sich selber in einem Akt der Selbstkasteiung ins Gesicht, auf Brust und Arme. Und je mehr er dabei feststellen musste, dass seine Bemühungen allesamt nicht fruchteten, desto mehr steigerte sich sein Frustfaktor. Diesem lästigen Quälgeist war offensichtlich einfach nicht beizukommen.
Nach Lage der Dinge gab es schließlich für Fridolin nur zwei Möglichkeiten, um sich die Chance auf ein paar Stunden Schlaf zu erhalten. Entweder gab er klein bei, verließ das Schlafzimmer und nächtigte im Wohnzimmer auf der Couch, oder er griff zu drastischen Verteidigungs-maßnahmen. Da er vor einer winzigen Stechmücke nicht kapitulieren wollte, kam für ihn eigentlich nur Letzteres in Frage. Er setzte jene chemische Keule ein, die speziell gegen fliegende Insekten entwickelt wurde, ein Insektenspray. Und diese Dose stand auf dem Tischchen draußen im Flur. Monika hatte sie dort deponiert, um es sofort griffbereit zu haben, wenn sie sich von Insekten jeder Art belästigt fühlte. Und dieses Spray hatte bis dato noch im-mer erfolgreich seinen Dienst getan und viele Fliegen vor ihrem biologischen Verfallsdatum ins Jenseits befördert.
In der Dunkelheit tastete sich Fridolin zum Schlafzimmer hinaus und machte dabei schmerzhafte Bekanntschaft mit der Tür, die nicht wie üblich angelehnt war, sondern halb geöffnet war. Eine Beule an der Stirn und ein heftiger Brummschädel würden ihn wohl noch eine geraume Zeit an seinen nächtlichen Kampf erinnern. Aber dieses negative Erlebnis steckte er tapfer weg. Da er sowieso ge-rade ob seiner großen Müdigkeit Probleme hatte, die Augen zu öffnen, sparte er sich auch das Licht im Flur, er wusste auch so, wie er zu gehen hatte, um zu dem bewussten Tischchen zu gelangen. Fridolin ertastete die Spraydose, machte auf dem Absatz kehrt und tastete sich ins Schlafzimmer zurück. So sehnsüchtig er sich auch wieder auf sein Bett geworfen hätte, er widerstand der Versuchung und blieb am Bettende stehen, wie ein vergessener Wachtposten, schlaff und mit geschlossenen Augen. Und er wartete ab, auf dass etwas passierte, und kämpfte dabei gegen seine bleierne Müdigkeit an. Es war ja nur gut, dass Monika nichts davon mitbekam und tief und fest schlief, sonst hätte er sich auch noch peinlicher Fragen erwehren müssen.
Lange musste Fridolin nicht warten auf die Fortsetzung der Konfrontation. Auch der kleine unsichtbare Quälgeist drängte auf eine Fortsetzung des schwelenden Konflikts. Aufmerksam hatte er seinen Widersacher beobachtet, ihn teilweise unbemerkt auf seinem Weg hinaus begleitet, und nun, da er so still und regungslos dastand, konnte er nicht länger widerstehen und flog ihn wieder direkt an. Und dabei fragte er sich wohl, ob dieser lustige Mensch ihm wieder so begeistert zuapplaudieren würde, wenn er ihn erneut mit seinem fröhlichen Summen erfreute.
Das war der Moment, auf den Fridolin mit Engelsgeduld gelauert hatte. Kaum, dass sich die Mücke seinem linken Ohr genähert und er ihren Singsang registriert hatte, als er blitzschnell aus seiner Lethargie erwachte und sofort zu sprühen begann, auf gut Glück in die Richtung des Summtons. Dann hielt er inne und lauschte angespannt in die Dunkelheit hinein. Fast glaubte er schon, seinen Widersacher eliminiert zu haben, als es plötzlich an seinem anderen Ohr summte. Sofort setzte er wieder seine Waffe ein und sprühte auch in diese Richtung, nicht nur auf einen bestimmten Punkt, an dem er die Mücke vermutete, sondern großflächig, um ihm auch eine durchaus mögliche Flucht zu vermasseln. Und abermals blieb er ganz ruhig stehen, hielt den Atem an und lauschte gespannt in die Dunkelheit hinein. Hatte er den lästigen Quälgeist endlich erwischt?
Fast schien es so. Gute fünf Minuten hielt Fridolin wieder lauschend durch, bis seine Müdigkeit ihn abermals bedrohlich schwanken ließ. Nicht das leiseste Sirren war ihm an die Ohren gedrungen, sodass er annehmen durfte, dass diese verflixte Mistfliege endlich in einer Ecke des Schlafzimmers lag und verzweifelt um ihr bisschen Leben rang, qualvoll verendend. Gähnend und mit weiterhin geschlossenen Augen tastete er zum Nachttischchen, stellte das Spray ab und ließ sich erschöpft auf sein Bett sinken. Endlich schlafen, dachte er erleichtert. Endlich Ruhe!
Alle Viere von sich gestreckt, das sanfte Säuseln seiner Frau schwach vernehmend, war Fridolin bereit, es ihr endlich gleichzutun, atmete tief durch, als er plötzlich zu-sammenzuckte wie unter einem Stromschlag. Sein ganz persönlicher Feind lebte wie eh und je und den Beweis dafür hörte er eindringlicher denn je an seinem linken Ohr. Und irgendwie war es diesmal ein ganz besonders aggressives Surren, als versuchte das Insekt, sein Ohr wieder von innen zu besichtigen. Diesmal ließ es sich auch nicht vertreiben, kehrte immer wieder dahin zurück, als suchte es eine Machtprobe, von einer geheimnisvollen, unerklärlichen Todessehnsucht getrieben. Fridolin packte darob die kalte Wut und suchte spontan eine finale Entscheidung. Erneut ergriff er die Spraydose und sprang mit tollkühnem Satz aus dem Bett. Diesmal sprühte er nicht mehr gezielt in eine bestimmte Richtung, diesmal sprühte er flächendeckend. Dabei ging er auch um das Bett herum und nebelte den ganzen Schlafraum systematisch ein. Eine dichte chemische Wand wollte er legen, durch die es kein Hindurchkommen mehr gab. In diesem Teppich sollte das elende Mistvieh endlich verrecken und dafür büßen, ihn so sehr geärgert zu haben.
Und dann ging auf einmal das Licht an. Fridolin kniff er-schrocken die Augen zusammen, weil er diese unerwartete Helligkeit nicht ertrug. Monika war dafür verantwortlich, die er eigentlich schlafend gewähnt hatte. Sie hatte sich aufgesetzt und betrachtete ihren Mann mit teilweise verschlafenem, teilweise ärgerlichem Gesicht, die Arme vor der Brust verschränkt. Und die Missbilligung über das obskure Treiben ihres Mannes kleidete sie auch sofort in entsprechende geharnischte Worte: „Was ist denn mit dir los, Fridolin? Bist du übergeschnappt? Was soll denn dieses Affentheater? Warum legst du dich nicht hin und schläfst?“
„Ich habe ein Problem“, erwiderte er verlegen und versuchte die Spraydose hinter seinem Rücken zu verbergen. „Es ist aber nichts, was dich irgendwie beunruhigen müsste!“
„Das sehe ich, dass du ein Problem hast“, giftete Monika ihn an, „und dabei bist du sogar nüchtern! Aber warum bitteschön sprühst du die frisch tapezierten Wände mit roter Farbe voll? Hat das etwas zu bedeuten?“
„Wie, rote Farbe?“ fragte Fridolin verwirrt. „Was meinst du damit?“
Ihre Erklärung brauchte er nicht abzuwarten. Jetzt, wo das Licht eingeschaltet war, sah auch er die vielen großen und kleinen roten Streifen und Flecken auf der beigen Tapete, die er noch drei Tage zuvor im Schweiße seines Angesichts und missgelaunt an die Wände geklebt hatte. Das sah nun aus wie auf einem Schlachtfeld, hässlich und abstoßend, einfach entsetzlich. Entgeistert sah Fridolin dann auf die Dose in seiner Hand. Es war kein Fliegenspray, es war der Autolack, den er selber im Flur bereitgestellt hatte, um anderntags an seinem Wagen zu arbeiten. Und es war ihm absolut schleierhaft, wie ihm diese eklatante Verwechslung hatte passieren können. Sprachlos und betroffen musterte er die Bescherung, die er da in der Dunkelheit in seinem Ärger angerichtet hatte, und dabei war sein Kopf nicht nur wie leergefegt, sondern er hätte auch auf einmal losheulen können wie ein kleiner Junge. Die ganze lange, beschwerliche Arbeit war buchstäblich für die Katz gewesen. Und er, er stand nun da vor seiner Frau, mitten in der Nacht, im Schlafanzug, ne-ben dem Bett, das ebenfalls reichlich Farbe abbekommen hatte, und fühlte sich wie ein Vollidiot. Und er wusste gleichzeitig, dass jeder Versuch einer plausiblen Erklärung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
„Du hast wirklich einen gewaltigen Sprung in der Schüssel, aber das weiß ich nicht erst seit heute“, stellte Monika kategorisch fest. „Jetzt musst du dir wenigstens keine Gedanken darüber machen, wie du dich am Wochenende beschäftigen kannst. Denn dass du das so nicht lassen kannst, dürfte dir ja wohl klar sein!“ Sie löschte das Licht und drehte sich auf die Seite. „Ich will nur hoffen, dass sich dein eigenartiges Verhalten nicht einmal auf die Kin-der auswirkt. Ein Depp in der Familie genügt völlig!“
Wie ein begossener Pudel stand Fridolin da, unfähig, sich zu rechtfertigen oder überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Dann ließ er einfach die Spraydose fallen und kroch hoffnungslos frustriert in sein Bett zurück. Er rollte sich ebenfalls auf die Seite und hoffte, dass er nun wenigstens rasch und in Ruhe einschlafen konnte, um dieses offenkundig gewordene Drama zu verdrängen. Aber da war wider Erwarten immer noch diese kleine, quirlige Stechmücke, die es sich nicht nehmen ließ, Fridolin mit ihrem leisen und eindringlichen Summen zu erfreuen. Sie demonstrierte einmal mehr, welche Kraft und Dynamik in ihr steckte und tanzte begeistert vor seinem lin-ken Ohr. Und sie ließ sich auch nicht durch die ständig vorbeiwischende Hand des Menschen aus der Fassung bringen.
Du willst diese Online-Zeitung mitgestalten? Du meinst, Kinder an die Macht? Sie sind die Zukunft unserer Erde? Du schreibst Märchen? Oder Du willst etwas zum Thema sagen?