Um nicht auch noch während der heiligen Mittagspause das deprimierende Elend rund um seinen Arbeitsplatz ertragen zu müssen, und wenn dazu der Speiseplan der Kantine seinen verwöhnten Gaumen auch nicht sonderlich zu begeistern vermochte, verließ Fridolin gerne die Firma, um durch die nahe Fußgängerzone zu schlendern und sich bei einem Bäcker oder Metzger etwas zu essen zu kaufen. Genüsslich eine Zigarette rauchend, beobachtete er dann die vielen Passanten, die ihre knapp bemessene Freizeit dazu benutzten, um in diverse Läden zu het-zen und einzukaufen, im Stehen irgendwo rasch einen Kaffee zu trinken oder anderweitig ihre Hektik auszuleben. Fridolin achtete in dieser Stunde immer darauf, bekannten Gesichtern möglichst aus dem Weg zu gehen, um nicht in tief schürfende Diskussionen verwickelt zu werden, die ihn Zeit und Nerven kosteten und seine Regenerationsphase störten.
Da Fridolin ein spürbares Grummeln im Magen plagte, war es für ihn nur logisch, etwas dagegen zu unternehmen. Er hatte nur noch keine Ahnung, mit welchem kulinarischem Leckerbissen er sich verwöhnen sollte. So betrachtete er nicht nur die Schaufenster zweier Bäckereien und das eines Metzgers, sondern ging auch an einem kleinen Imbissladen vorbei, um dort seine Nase in die ausströmende Düfte zu stecken. Aber weder Döner, noch Currywurst, noch Brathähnchen vermochten ihn richtig zu motivieren. Und auch der Gang über den Wochenmarkt brachte nicht das, was er sich insgeheim erhofft hatte. Wäre ihm irgendein Obst ins Auge gestochen, das ihn so richtig angemacht hätte, Trauben, Nektarinen oder vielleicht sogar eine Melone, vielleicht hätte Fridolin sogar einen Obsttag eingelegt. Aber so sehr er sich auch umsah, nichts war es mit der rechten Animation. Solche Tage gab es bisweilen.
Fridolin wollte das Marktareal wieder verlassen und wäre in dem großen Gedränge um ein Haar über einen kleinen Leiterwagen gestolpert. Er hatte ihn völlig übersehen. Es kostete ihn eine geradezu sensationelle Körperbeherrschung, sich wie eine Primaballerina zurückzureißen, mit den Armen heftig rudernd das Gleichgewicht zu halten und dann seitlich wegzutänzeln, um nicht über dieses Hindernis zu fallen und sich dabei vielleicht noch zu verletzen. Lob für diese Einlage bekam Fridolin von verschiedenen Seiten, aber die Besitzerin des Leiterwagens, ein altes Mütterchen, hatte von diesem Beinaheunfall gar nichts bemerkt. Weit vornüber gebeugt, eigentlich nur ein kleines, schwarzes Bündel mit Kopftuch, zog sie schwer an ihrer Last und ließ sich dabei durch die vielen Leuten ringsum nicht beirren. Wer ihren Rädern zu nahe kam, riskierte, mit den Zehen darunter zu geraten. Geladen hatte sie mehrere große Körbe voller Gemüse, Gurken, Rüben und Krautköpfe, dazu kleinere Körbe mit Äp-feln, Zwetschgen, Birnen und Kirschen. Das alles zusam-men verfügte über ein großes Gewicht, da war es gut, wenn die Räder rollten und in Bewegung blieben.
Normalerweise hätte Fridolin das Mütterchen mit ihrem Leiterwagen des Wegs ziehen lassen und wäre einfach weiter geschlendert, wäre da nicht noch etwas gewesen, das ihm ins Auge gestochen war. Auf dem Korb mit den Äpfeln lag noch ein großes, braunes Päckchen, sehr flach und sehr breit, das an einer Seite aufgeplatzt war und ei-nen freien Blick auf seinen Inhalt gewährte. Und der war durchaus interessant. Wenn ihn seine Augen nicht getrogen hatten, dann war das eine stattliche Portion fein geschnittener, saftiger Schinken, und nicht einmal von der billigen Sorte. Und plötzlich klickte es bei Fridolin. Schinken! Schinkenbrötchen! Genau! Das war es, was ihm jetzt schmecken würde. Das hatte er eine kleine Ewigkeit nicht mehr gegessen.
Eigentlich hätte Fridolin nach diesem zufälligen Tipp die-se alte Frau egal sein können. Er hätte sie in der Men-schenmenge untertauchen lassen und zum nächsten Metzger gehen können, um sich Schinken und danach bei einem Bäcker Brötchen zu kaufen. Doch dummerweise ging von diesem kleinen braunen Päckchen eine eigenartige hypnotische Faszination aus. Er konnte gar nicht verhindern, diesem sperrigen Leiterwagen zu folgen, im-mer seinen Blick darauf gerichtet, als wollte er bewachen, was der alten Frau gehörte. Weder wusste er, wohin sie mit ihrer schweren Fracht wollte, noch ob sie sie gekauft hatte oder verkaufen wollte, und hätte er sich vergegenwärtigt, dass er sich dabei eigentlich wie ein Idiot benahm, dann hätte er sich wohl zusammengerissen und wäre in entgegengesetzter Richtung davongegangen. Aber irgendwie waren seine sieben Sinne ausgeschaltet und beherrscht von dem kleinen Schinkenpäckchen. Und zu allem Überfluss knurrte auch noch sein Magen heftig und intensiv.
Und dieses eigenartige Verhalten erfuhr noch eine weitere Steigerung, ohne dass er sich in diesem Moment darüber bewusst war. Während Fridolin wie hypnotisiert hinter dem Leiterwagen herging und auf den Leckerbissen starrte, wurde das Verlangen danach so übermächtig, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Wie ein hundsgemeiner Dieb griff er blitzschnell zu, brachte das Schinkenpäckchen an sich und hastete mit Riesenschritten davon, noch bevor ein aufmerksamer und gerechtigkeitsfanatischer Passant, der das vielleicht beobachtet hatte, womöglich dagegen einschreiten konnte.
Vorsichtshalber schlug Fridolin ein paar Haken wie ein Hase, wechselte ein paar Mal die Fluchtrichtung, um mögliche Verfolger abzuschütteln, und als er schließlich in einer kleinen Seitengasse untergetaucht war und sich hinter einen geparkten Lieferwagen gestellt hatte, um zu kontrollieren, ob Ärger in Verzug war, begann er auch so-fort, mit großem Appetit die Spuren seines Diebstahls zu beseitigen. Ohne Brötchen, einfach so, Scheibe für Scheibe. Zugegeben, der Schinken schmeckte schon etwas anders, als er sich gedacht hatte, er hatte sogar einen ganz eigenartigen Beigeschmack, wie er ihn von einem guten Schinken eigentlich nicht kannte, aber egal. Der Hunger trieb ihn in sich hinein und vertrieb alle Ressentiments. Fridolin aß nicht, er schlang die Schinkenscheiben hinunter, stopfte sie in sich hinein, dass er ein paar Mal husten musste und sich fast daran verschluckte. Und als er schließlich den ganzen Schinken verputzt hatte, zerknüllte er das Papier, warf es einfach unter den Wagen und strich sich zufrieden und gesättigt über den Bauch. Schließlich stieß er noch kraftvoll auf und fühlte sich ganz gut dabei.
Langsam ging Fridolin weiter und steckte sich eine Zigarette an. Eigentlich hatte er vor, zur Firma zurückzuschlendern, aber irgendwie wurde das nichts. Nicht etwa, dass er den Weg dorthin nicht gefunden hätte, aber da hatte sich auf einmal in ihm etwas geregt, mit dem er in diesem Moment nicht gerechnet hätte, und mit dem er auch nicht so einfach fertig wurde: das schlechte Gewissen. Er hatte in seinem Leben schon manches krumme Ding gedreht, ohne deswegen gleich kriminell zu sein, war in seiner Jugendzeit ob seiner Streiche sogar gefürchtet gewesen. Aber ein schlechtes Gewissen hatte er deswegen nie verspürt. Umso seltsamer kam ihm diese ungewohnte Regung an, und gleich so heftig, dass er stehen blieb und seine halb gerauchte Zigarette wegwarf. Fridolin stemmte seine Hände in die Seiten, sah nachdenklich zum wolkenverhangenen Himmel hoch, nagte an seiner Unterlippe und dachte an die alte Frau, die sich so sehr mit dem schwerbeladenen Leiterwagen abgemüht hatte. Anstatt er sich ihrer erbarmt und ihr den Wagen wenigstens eine kurze Strecke weit gezogen hätte, damit sie sich hätte ein wenig ausruhen können von den offensichtlichen Strapazen, hatte er sie auch noch bestohlen wie ein gemeiner Dieb. Höchstwahrscheinlich war der Schinken sogar ihr Mittag- oder Abendessen gewesen, das sie sich für viel Geld von ihrer kleinen Rente abgezweigt hatte. Nun, da es nicht mehr vorhanden war, würde sie wohl zetern und jammern über die Schlechtigkeit dieser Welt, vermutlich auch weinen und hungern müssen. Sie hatte so klein und zerbrechlich ausgesehen, irgendwie saft- und kraftlos, als wollte sie demnächst zusammenbrechen. Wenn sie nun tatsächlich an Erschöpfung oder Entkräftung einging und publik wurde, dass sie kurz davor noch bestohlen wurde, dann wollte nicht ausgerechnet er derjenige sein, der Schuld hatte an diesem Unglück. Er hatte es ja auch gar nicht nötig zu stehlen. Es war ein dummer und peinlicher Blackout gewesen, über den er sich immer mehr ärgerte, je länger er darüber nachdachte. Und eigentlich musste er sich auch eingestehen, dass er wie ein Idiot gehandelt hatte. Fridolin, ein Dieb bei einer alten, wehrlosen Frau – ein Unding! Eine Katastrophe!
Schließlich schlug das Gewissen Fridolin so sehr, dass es ihm auf einmal richtig schlecht wurde. Fast musste er sich deswegen sogar übergeben. Er vermochte nur noch an diese alte Frau mit ihrem überladenen Leiterwagen zu denken, bekam seinen Kopf für andere Dinge nicht mehr frei. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, diese ruchlose Tat ungeschehen zu machen. Und dann ging auf einmal ein Ruck durch Fridolin, als ob ihn ein Blitz aus heiterem Himmel gestreift hätte. Zwischen seine Selbstvorwürfe hatte sich ein Gedanke gedrängelt, der ei-ne Lösung des Problems darstellte. Vielleicht konnte er ja seine Tat ungeschehen machen, die Alte für ihren entstandenen Verlust entschädigen? Dabei würde er sich vermutlich den einen oder anderen Rüffel anhören, vielleicht auch akzeptieren müssen, dass sie nach der Polizei verlangte, aber wenn er sie fürstlich entschädigte und sich dabei wirklich nicht lumpen ließ, dann konnte er wo-möglich alles zum Guten wenden. Unterm Strich würde die Frau noch ein Plus machen und zufrieden sein können und Fridolin konnte wieder befreit aufatmen. Und er blieb ein ehrlicher Mensch. Das war es! Er schnippte mit den Fingern der linken Hand und war überzeugt, dass dies das Beste war, was er in dieser vertrackten Situation tun konnte. Und er machte sich sofort und entschlossen auf die Suche nach der kleinen alten Frau und ihrem Leiterwagen.
Fridolin wusste in etwa die Richtung, in der die Alte verschwunden war und konnte nur hoffen, dass sie zwischenzeitlich nicht irgendwo abgebogen war. Rigoros fuhr er seine Ellenbogen aus und tänzelte an den vielen Passanten vorbei, die für ihn nichts weiter als Hindernisse darstellten. Dabei spähte er nach allen Seiten aus und in jede Seitenstraße hinein, konnte aber nichts erkennen, was auf die gesuchte Frau hindeutete. Er hastete durch die ganze lange Fußgängerzone und wollte fast schon sein ehrbares Vorhaben aufgeben, als er doch noch weit vorne, am Ende der Fußgängerzone, den Leiterwagen entdeckte. Dort gab es eine Ampel, die für die Leute, die über die Straße wollten, gerade auf Rot stand. Das war die Chance für Fridolin. Er rannte ein kleines Stück weit, ein paar Leute rempelnd, um den Anschluss herzustellen, musste zulassen, wie die alte Frau ihren Leiterwagen über die Straße zog und er selber auf Grund des neuen Rotlichts warten musste. Aber diese Regelung sah Fridolin nicht ganz ein und rannte einfach über die Straße, ris-kierend, angefahren zu werden. Das vereinzelte Hupen überhörte er dabei großzügig. Dann noch ein letzter kleiner Spurt, und er hatte die Alte endlich eingeholt.
„Einen kleinen Moment, meine Dame“, sagte er schweratmend, als er neben ihr herging. „Ich möchte Ihnen gerne etwas sagen.“
Die Frau blieb stehen und musterte Fridolin neugierig. Hatte sie durch das Ziehen ihres Wagens schon so klein ausgesehen, so war es jetzt, wo sie vor ihm stand, kein bisschen besser. Die schwere körperliche Arbeit vieler Jahre hatte ihren zierlichen Rücken gekrümmt, was ihr gewisse Probleme bereitete, dem wesentlich größeren Fridolin in die Augen zu sehen. Sie hatte das gütige, faltige und sonnengebräunte Gesicht einer Bäuerin, die ihr ganzes Leben nichts Anderes gekannt hatte als die harte Knochenarbeit in der Landwirtschaft. Schwer zu schätzen, wie alt sie war. Aber sie hatte etwas Sympathisches an sich, ihre Augen blinzelten listig und um ihre dünnen Mundwinkel zuckte es. Ohne ein Wort zu sagen, wartete sie ab, was Fridolin ihr sagen wollte.
„Wissen Sie, gute Frau, es ist nicht ganz einfach, was ich Ihnen zu sagen habe“, druckste er errötend herum, weil sie ihn unverwandt ansah, „ich möchte Ihnen nämlich gerne ein Geständnis machen. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Ihnen ist etwas abhanden gekommen, was Sie vermutlich noch gar nicht bemerkt haben, und ich bin leider nicht ganz unschuldig daran.“
„Was meinen Sie denn?“ fragte sie mit brüchiger Stimme.
„Auf Ihrem Wagen hat sich zuoberst ein kleines Päckchen befunden... Das ist nun leider nicht mehr da...“
Die Alte sah hin und nickte scheinbar gleichmütig. „Richtig. Da war ein Päckchen. Auf den Äpfeln hat es gelegen. Da war Schinken drin. Jetzt fehlt es. Habe ich es irgendwo verloren?“
„Großzügig betrachtet könnte man den Sachverhalt so betrachten“, nickte Fridolin.
„Das ist aber dumm“, lächelte sie kopfschüttelnd. „Haben Sie es gefunden und wollen es mir geben, junger Mann?“
„Gefunden? Ja, so könnte man wohl sagen“, nickte Fridolin errötend. „Aber zurückgeben ist leider nicht mehr möglich. Denn den Schinken gibt es nicht mehr. Ich habe mir nämlich erlaubt, ihn ratzeputz aufzuessen. Und jetzt drückt mich nicht nur der Magen, sondern auch das Gewissen und ich möchte das jetzt gerne wieder gut machen.“
Die Frau legte etwas ihren Kopf schief und lächelte wider Erwarten weiter: „Hat er Ihnen denn geschmeckt, mein Schinken?“ wollte sie wissen.
„Na ja, wenn ich ehrlich bin, er hatte schon einen etwas eigenartigen Geschmack, irgendwie untypisch für einen guten Schinken. Aus Parma war er mit Sicherheit nicht. Ich habe das erst mit der Zeit gemerkt. Das war wohl eine Spezialwürzung oder so ähnlich?“
„Nein, das kann man so nicht sagen“, schmunzelte die Frau. „Das war vielmehr ein ganz spezieller Schinken.“
„Aus dem Ausland?“
„Nein, selber hergestellt.“ Plötzlich lachte die Alte herzerfrischend und ließ Fridolin sofort misstrauisch werden. „Wissen Sie, das war ein ewiger Schinken, den Sie mir da weggegessen haben, und der war auch gar nicht gedacht zum Essen. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste, wie Sie sehen können, und das Gehen fällt mir auch nicht mehr so leicht. Vor allem laufe ich mich immer so schnell wund an den Schenkeln, und das tut dann immer so schrecklich weh. Einfach furchtbar ist das und oft kaum auszuhalten. Aber wenn ich dann meinen Schinken nehme und dorthin stecke, dann kühlt das nicht nur, sondern schmiert mir auch meine wunden Stellen. Das hilft wirklich prima und kann ich nur bestens weiterempfehlen.“
„Das ist nicht wahr!“ rief Fridolin betroffen.
„Natürlich muss das ein saftiger Schinken sein und kein magerer, und man muss ihn auch ab und zu auffrischen mit Butter oder Fett. Und jetzt, wo der Schinken weg ist, muss ich nach einem neuen schauen.“
Fridolin ereilte ein weiterer spontaner Sinneswandel. Er wollte nichts mehr wissen von Schinken und schlechtem Gewissen, er nahm auch nichts mehr auf. Er sah die kleine, alte, gebeugte Frau und es wurde ihm auf einmal richtig schlecht. Fridolin merkte, wie es ihm langsam den Hals zuschnürte und er auf dem besten Weg war, sich zu übergeben. Und er beeilte sich, wegzukommen, irgendwohin in eine stille Ecke, wo er unbeobachtet war und sein Ruhe hatte. Diese Mittagspause würde er wohl so schnell nicht vergessen.
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