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Oma

von Peter Wendlandt
Eigentlich hatte Fridolin geplant, den Sommerurlaub auf den Kanarischen Inseln zu verbringen, sich dort dem süßen Nichtstun hinzugeben und die pralle Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Lange genug hatten sie auch darauf gespart. Monika war zu Beginn auch dafür gewesen und die Kinder sowieso, doch dann hatte sich just zu diesem Termin seine Schwiegermutter aus dem Altenheim zu Besuch angesagt. Gleich vier Wochen wollte sie mit ihren Lieben verbringen. Und während Fridolin dies energisch zu verhindern suchte, war seine bessere Hälfte natürlich dafür.
„Meine Mutter kommt uns nur zweimal im Jahr besuchen“, argumentierte sie bestimmt, „dann werden wir wohl auch die Zeit für sie aufbringen können!“
Somit ergab sich ein Problem. Fridolin konnte unmöglich seinen Urlaub verschieben. Die alte Dame bestand aber darauf, gerade an diesem Wochenende anzureisen und wäre tödlich gekränkt gewesen, wäre die Familie einfach abgereist. Andererseits wollte Fridolin nicht vier Wochen lang zu Hause herumsitzen, da wäre ihm ganz gewiss die Decke auf den Kopf fallen. Immerhin bestand noch die Möglichkeit, die Schwiegermutter mitzunehmen. Sie war bislang einmal in ihrem Leben geflogen, in den fünfziger Jahren, und dabei war es ihr so schlecht geworden, dass sie sich geschworen hatte, nie mehr in ein Flugzeug einzusteigen. Oder aber Fridolin flog allein mit den Kindern und ließ Monika nebst Mutter zu Hause. Doch auch diesen zweifellos verführerischen Gedanken verwarf er wieder, sonst wäre höchstwahrscheinlich ein noch schärferer Ton in das sowieso schon oft angespannte Familienleben eingezogen. Was also war da zu tun? Er konnte die alte Dame schließlich nicht einfach entsorgen.
„Und wenn wir die Kanaren sausen lassen und stattdessen mit Oma für vierzehn Tage in den Bayrischen Wald oder nach Österreich fahren?“ schlug Monika vor. „Dort ist es doch auch sehr schön.“
„Dort ist es total überlaufen und viel zu spät, noch ein an-ständiges Hotel zu bekommen“, brummte Fridolin.
„Wer redet denn von einem Hotel? Wir können doch wie-der mal zelten, so wie früher!“
„Du und zelten? Da lachen ja die Hühner! Du legst dich dann wieder in einen Ameisenhaufen zum Sonnenbaden hinein und ich darf mir dann die restlichen Wochen wieder dein andauerndes Gemecker anhören!“
„Rede keinen Quatsch, das kann jedem einmal passieren! Aber ich finde Zelten wirklich eine ideale Lösung. Wir können ja meinetwegen auch nach Italien fahren, ans Meer, wenn du unbedingt möchtest.“
„Und ob ich ans Meer möchte“, erwiderte Fridolin bestimmt, „aber bestimmt nicht nach Italien! Wenn schon, dann nach Spanien oder Portugal, aber niemals Italien!“
„Ist es dort für Mutter nicht zu heiß?“ gab Monika besorgt zu bedenken.
„Sie wird davon schon nicht eingehen, und einen Dachschaden hat sie sowieso schon! Sie muss ja nicht mit, das hat niemand von ihr verlangt. Wenn sie uns unbedingt auf die Nerven fallen muss, dann soll sie sich auch gefälligst nach uns richten, und wenn ihr das nicht passt, dann kann sie mir im Mondschein begegnen! Dann wandert sie eben schnurstracks ins Altenheim zurück, da fackle ich nicht lange herum!“
„Du bist gemein, Fridolin“, stellte Monika fest. „Und ungerecht! Das hat Mutter nicht verdient!“
„Das sagst du als ihre Tochter“, konterte Fridolin abwinkend. „Aber ich war immer ein rotes Tuch für sie! Und am besten verstehen wir uns immer noch, wenn wir uns aus dem Weg gegen! Die Frau ist ein Sargnagel für mich! Und sie tötet mir irgendwann noch einmal den letzten Nerv!“

Einen Monat später befanden sich die Quakenbuschs auf dem langen Weg in den sonnigen Süden. Leger steuerte das Familienoberhaupt den hoffnungslos überladenen Wagen über die Autobahn. Neben ihm saß Monika, die er mit der Überwachung der Landkarte beauftragt hatte, und hinten dösten die Kinder und die Oma, die immer wieder wert darauf gelegt hatte, der Familie wissen zu lassen, dass sie nur unter Protest mitfuhr. Außerdem sprach sie während der Fahrt fast kein Wort. Fridolins Drohung, sie in Spanien einfach auszusetzen, falls sie den ganzen Tag über quengelte, wirkte nachhaltig. Und er war es zufrieden.
Entgegen allen Erwartungen und Befürchtungen wurde es tatsächlich ein schöner und erholsamer Urlaub. Etwa 200 Kilometer südlich von Barcelona fand sich ein überfüllter Campingplatz, dessen Betreiber gegen ein entspre-chendes Trinkgeld doch noch ein freies Plätzchen ausfindig machte, sodass die Quakenbuschs zwischen einer redseligen spanischen und einer mundfaulen englischen Familie ihr Zelt aufbauen konnten. Bei strahlendem Sonnenschein badeten sie jeden Tag im Meer, während Oma ihnen im Klappstuhl unter einem Sonnenschirm dabei gelangweilt zusah. Sie besichtigten öfters die nähere Um-gebung, bis auf Oma, der das zu anstrengend war bei der Hitze. Sie genossen die einheimische Küche, bis auf Oma, die gleich zu Beginn einen hartnäckigen Durchfall davon bekommen hatte, und das Leben in vollen Zügen, bis auf Oma, der der ganze Trubel auf dem Campingplatz und am Strand zunehmend anstrengender wurde. Es war ein Leben, wie es sich Fridolin oft erträumte, wenn er in seinem Büro saß und Aktenvorgänge bearbeitete. Es hätte ewig so weiter gehen können, zumal auch die zwischenmenschliche Ebene innerhalb der Familie erstaunlicherweise in geordneten Bahnen verlief. Doch am Morgen des drittletzten Tages ihres Spanienaufenthalts wurde plötzlich alles anders.

Am späten Vormittag versammelte sich die Familie um den Frühstückstisch, den Monika vor dem Zelt aufgebaut hatte. Betörender Kaffeeduft stieg in die Nasen, Schinken und Eier brutzelten in der Pfanne. Zuvor hatte sich die hungrige Familie beeilt, im nahegelegenen Waschraum des Campingplatzes ihre obligatorische Morgentoilette zu verrichten. Lediglich Oma ließ auf sich warten. Sie schlief gerne ein, zwei Stündchen länger, wegen dem Lärm, den die Spanier nebenan jeden Abend veranstalteten, wie sie behauptete. Fridolin war es recht, jede Minute, in der er die Frau nicht zu Gesicht bekam, war für ihn eine zusätzliche Verschönerung seines Urlaubs. Seinetwegen konnte sie auch den ganzen Tag durchschlafen, er hatte nichts dagegen. Aber an diesem Morgen schlief sie doch außergewöhnlich lange. Irgendwann brachte das Monika auch zwischen zwei Schluck Kaffee zum Ausdruck.
„Mutter hat heute aber einen besonders festen Schlaf. Seltsam, dass sie uns nicht hört.“
„Sie wird gestern wohl noch am Sangria gewesen sein“, brummte Fridolin und verabreichte Andreas einen leichten Klaps, weil er die ganze Zeit über seine Schwester ärgerte.
„Meine Mutter trinkt nicht, was man von deinen Verwandten nicht gerade behaupten kann“, konterte sie und biss von ihrem Brot ab.
Fridolin war nicht nach Streit zumute und brummte: „Ir-gendeinen Grund wird es ja wohl haben, weshalb sie im-mer noch an der Luftmatratze horcht.“
„Ich kann sie ja aufwecken“, schlug Monika vor.
„Um Gottes Willen, alles, bloß das nicht“, rief Fridolin er-schrocken. „Du möchtest mir wohl unbedingt das Früh-stück vermiesen? Lass sie bloß schlafen, sonst kommt mir die Galle hoch!“
„Du bist heute mal wieder ganz besonders charmant, Fri-dolin! Das hat Mutter wirklich nicht verdient!“
„Schrei nicht so laut, sonst wacht sie womöglich auf!“
„Jetzt sollte ich sie gerade zum Fleiß wecken!“
„Du willst wohl unbedingt zu Fuß nach Hause zurück?“
„Jetzt ist es aber wirklich genug, Fridolin! Ich habe deine dummen Bemerkungen wirklich satt!“ begehrte Monika auf. „Andreas, nimm den Finger aus der Nase und geh die Oma wecken! Und schlaf mir dabei unterwegs nicht ein, hörst du? Du trödelst heute nur herum!“
Langsam, widerwillig, aber gehorsam schlurfte der Sohn ins Zelt hinein. Er rief ein paar Mal „Oma, Aufstehen, Frühstücken“, aber aus ihrer Schlafkabine drang kein Ton heraus. Ohne Ergebnis kehrte er schließlich zurück, sagte: „Oma schläft immer noch“, und setzte sich wieder an den Tisch, um mit dem Finger Erdbeermarmelade aus dem Glas herauszuholen, wofür er sich prompt einen weiteren Klaps einhandelte.
„Dann werde ich das eben selber in die Hand nehmen“, erklärte daraufhin Monika, setzte ihre Kaffeetasse ab und erhob sich, während sich Fridolin kopfschüttelnd und seufzend in sein Schicksal fügte.
„Dann bleibt mir wieder nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen“, bemerkte er zynisch und trank sein Glas Orangensaft leer.
Nachdem Monika im Zelt verschwunden war, dauerte es fast eine Minute, bis ihr schriller Schrei die Familie hochschreckte. Wie von tausend Furien gehetzt kam sie her-ausgerannt, direkt auf ihren Mann zu und packte ihn mit eisernem Griff am Kragen seines Polohemdes. Ihr Gesicht war schreckensbleich und spiegelte blankes Entsetzen wider.
„Komm schnell, Fridolin“, stammelte sie mit Tränen in den Augen, „ich glaube, es ist etwas Entsetzliches passiert!“ „Hast du wieder einen deiner Ohrringe verloren?“ seufzte Fridolin genervt.
„Du Idiot! Es handelt sich um Mutter!“
„Wann in diesem Urlaub hat sich einmal nichts um deine Mutter gedreht?“ erwiderte er sarkastisch. „Um sie wird doch ständig herumgeschwänzelt, als wäre sie die spanische Königin persönlich! Was ist denn jetzt schon wieder passiert? Hat sie sich irgendwo mit der großen Zehe ver-fangen und kann sich nicht mehr selbst befreien? Ich traue ihr alles zu!“
Anstatt einer passenden Antwort wandte sich Monika um und herrschte die Kinder an, sie sollten sich unverzüglich an den Strand begeben, ohne Widerrede, und dort einen schönen Platz suchen und besetzen, bis sie nachkommen würden. Und nachdem sich die Kinder murrend getrollt hatten, wandte sie sich wieder ihrem Mann zu und sagte mit bebender Stimme: „Ich sieht ganz danach aus, als wäre Mutter heute Nacht gestorben!“
„Du willst mich wohl verarschen?“ fuhr Fridolin erschrocken hoch.
„Nein. Überzeuge dich doch selbst davon!“
„Verdammt noch mal, das hätte mir aber gerade noch gefehlt!“
Mit raumgreifenden Schritten stürmte er ins Zelt hinein, dicht gefolgt von Monika, schob mit einer Handbewegung das Tuch der Schlafkabine beiseite und blickte hinein. Er sah einen zusammengekrümmten blauen Schlafsack auf der orangefarbenen Luftmatratze liegen, aus der Öffnung lugte das lockige weiße Haar seiner Schwiegermutter heraus. Vorsichtig stieg Fridolin in die Schlafkabi-ne hinein und rüttelte die alte Frau ein paar Mal behutsam an der Schulter, als sie sich daraufhin nicht rührte, suchte er den Reißverschluss des Schlafsacks. Der hatte sich in ihren Haaren verfangen, sodass er erst noch etwas daran herumfummeln musste, bis er ihn betätigen konnte. Dann konnte Fridolin endlich seine Schwiegermutter befreien und einen genauen Blick auf sie werfen.
Regungslos lag die alte Frau vor ihm, etwas auf der Seite, bleich, den Mund weit geöffnet und die Augen aufgerissen. Die Hände waren verkrampft und lagen dicht beiein-ander neben dem Kopf. Zudem stieg Fridolin ein strenges Lüftchen in die Nase. Vorsichtig fühlte er ihren Puls, und als er nichts wahrnahm, befühlte er die Halsschlagader, die dick und dunkel hervortrat. Und als er auch da nichts spürte, legte er kurzerhand sein rechtes Ohr auf ihre Brust und horchte angestrengt nach ihrem Herzschlag. Wieder nichts. Schließlich rappelte sich Fridolin kopfschüttelnd auf, kroch rückwärts zur Schlafkabine heraus und urteilte: „Verdammte Scheiße! Ich glaube, sie hat tatsächlich den Löffel für immer abgegeben!“ „Oh Gott, nein“, schluchzte Monika auf und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
„Nun weine nicht, davon wird sie auch nicht mehr lebendig“, erwiderte Fridolin genervt und zog den Reißverschluss der Schlafkabine zu.
„Du bist unmenschlich“, schluchzte Monika. „Wie kannst du nach ihrem Tod noch so despektierlich von ihr reden? Du bist ein richtiges Scheusal!“
„Meinetwegen! Auf alle Fälle hat sie uns durch ihren Tod ein verdammt dickes Ei ins Nest gelegt! Wir müssen uns überlegen, wie wir sie nach Hause bringen!“
„Wieso?“
„Weil wir hier in Spanien sind! Geh hier mal zur Polizei und erzähl den Brüdern, dass deine Mutter über Nacht einfach gestorben ist! Zuerst verstehen sie nur Bahnhof und dann glauben sie, wir hätten sie um die Ecke gebracht! So wie sie daliegt, ist sie vermutlich erstickt. Sie hat sich zu sehr eingeigelt, ihre Haare haben sich im Reißverschluss verfangen und sie kam nicht mehr heraus. Wir hätten das genauso erledigen können. Und dann die ganzen Formalitäten, bis sie endlich nach Deutschland überführt werden kann! Wir können kein Spanisch und außerdem ist der Transport auch sündhaft teuer. Das können wir gar nicht bezahlen. Was glaubst du, was das alles für Scherereien sind! Willst du etwa das alles auf dich nehmen, Monika?“
„Ich weiß nicht“, sagte sie leise.
„Eben. Deshalb müssen wir uns etwas einfallen lassen.“
„Wir könnten Mutter ja auch hier in Spanien beerdigen lassen?“ schlug Monika nach einer Weile vor.
„Dann erfährt es auch die Polizei und wir haben den ganzen Ärger am Hals! Es sei denn...“
„Ist die Oma schon aufgestanden? Wir wollen sie nämlich etwas fragen“, platzte die kleine Caroline, die aus dem Nichts aufgetaucht war, in die Unterhaltung.
„Oma schläft immer noch tief und fest“, antwortete der Vater unwirsch. „Mach, dass du wieder an den Strand kommst, sonst mache ich dir Beine!“
„Aber Andreas lässt mir keine Ruhe! Er ärgert mich an-dauernd und spritzt mich nass!“
„Sag ihm, wenn er damit nicht sofort aufhört, lege ich ihn übers Knie! Und jetzt geh endlich zum Strand zurück!“
Ungeduldig warteten die Eltern, bis Caroline wieder verschwunden war, dann fragte Monika: „Hast du denn schon eine Lösung, Fridolin? Du hast eben so eine Andeutung gemacht!“
„Möglicherweise. Wir könnten sie schon begraben. Heute Nacht zum Beispiel, heimlich, drüben im Wald.“
„Nein! Das mache ich nicht mit!“ wehrte sie sich. „Dann nehme ich sie lieber mit nach Hause!“
„Wir haben ja auch noch das Wasser. Wir können sie auch einfach versenken. Das wäre auch nicht so anstrengend und eine saubere Sache.“
„Nein! Dagegen wehre ich mich auch!“
„Wie du meinst! Dann lass du dir doch mal etwas einfallen, wenn dir meine Vorschläge nicht gefallen!“ forderte Fridolin Monika auf.
„Ich mache mir auch Sorgen um die Kinder! Ich weiß nicht, wie sie Mutters Tod aufnehmen werden! Hoffentlich bekommen sie keinen seelischen Knacks davon, wo sie doch so sehr an ihr gehangen sind!“
„Sie müssen es ja nicht erfahren, wenigstens hier in Spanien noch nicht, sonst verplappern sie sich womöglich noch“, überlegte Fridolin. „Wenn sie wieder nach der Oma fragen sollten, können wir ihnen ja sagen, dass sie schon nach Hause gefahren ist, weil es ihr hier zu heiß geworden ist. Und zu Hause können wir sie ja immer noch offiziell sterben lassen.“ „Dann müssen wir sie aber auch nach Deutschland bringen, damit die Kinder sie noch einmal sehen können“, gab Monika zu bedenken.
„Auch noch Ansprüche stellen, wo wir sowieso schon bis zum Hals in der Scheiße stecken“, maulte Fridolin und setzte sich wieder auf seinen Campingstuhl. Angestrengt begann er zu überlegen, während Monika leise weinend das Geschirr abräumte. Der plötzliche Tod ihrer Mutter nahm sie sichtlich mit.
Nachdem sie ihre Arbeit beendet und noch ein paar schmerzerfüllte Blicke auf ihre Mutter geworfen hatte, gesellte sie sich wieder zu ihrem Mann, sich mit einem durchnässten Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht tupfend. Der musterte sie mit zerfurchter Stirn und sagte: „Du bleibst dabei, dass deine Mutter nach Deutschland mitgenommen werden soll?“
„Ja, auf alle Fälle“, nickte Monika heftig.
„Ich glaube, dann habe ich eine Lösung gefunden. Aber ich sage dir, dass das die einzige mögliche Lösung ist, und sie ist auch etwas gefährlich, vor allem an den Grenzen. Wenn du das also nicht einsiehst, werde ich deine Mutter heute Nacht eigenhändig verbuddeln oder absaufen lassen!“

Andreas und Caroline wunderten sich und maulten auch, als das Familienoberhaupt beim auf 17 Uhr vorverlegten Abendessen verkündete, dass sie sich anschließend gleich in ihre Schlafsäcke verdrücken sollten, um ausgeschlafen zu sein, wenn sie in der Nacht Richtung Heimat aufbrechen würden. Natürlich hatten die Kinder im Laufe des Tages auch nach der Oma gefragt, und die Eltern hatten ihnen knapp erzählt, dass es ihr zu heiß geworden war und sie sich deshalb bereits auf den Weg nach Hause be-fand. Dort würde sie dann mit einer großen Überraschung aufwarten – was ja nicht ganz falsch war. Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis die Eltern endlich Ruhe hatten vor ihren Kindern. Während dann Monika daran ging, alle Habseligkeiten systematisch zusammenzupacken, ging Fridolin zum Betreiber des Campingplatzes, um die Rechnung zu begleichen und dem Spanier auf englisch zu erklären, dass er in den nächsten Stunden ab-zufahren gedachte. Anschließend half er Monika, bis sie schließlich alles bis auf das Zelt im Kofferraum, auf den Rücksitzen, zwischen den Sitzen und auf dem Dachständer verstaut hatten. Für das Zelt wurde ein freier Platz auf dem Dach reserviert. Und dann mussten sie nur noch abwarten, bis es endlich dunkel wurde.
Schweigend saßen Fridolin und Monika auf einer Bank, wischten sich den Schweiß von der Stirn, sahen jungen Leuten zu, die vor ihrem Zelt grillten und hingen ihren Gedanken nach. Und während sie so dasaßen, kam auch prompt das englische Ehepaar von nebenan angeschlendert. Die sind jetzt die Letzten, die ich gebrauchen kann, dachte Fridolin verstimmt. Lächelnd traten die Zwei näher, nickten und grüßten freundlich und der Mann fragte in gebrochenem Deutsch: „Ich sehe, Sie wollen fahren wieder nach Germany zurück?“
„Yes“, erwiderte Fridolin knapp und lächelte gequält.
„Tonight Sie können aber not fahren, Sir. The Highway is closed wegen eine big accident. Alles gesperrt.”
„Egal, wir müssen heim. Besser heute Nacht eine Umleitung als morgen bei Tag viele Staus auf den Autobahnen, dass wir nicht weiterkommen.“
„Dann wünschen wir Ihnen a very good journey to Germany“, sagte der Engländer, winkte und lächelte mit seiner Gattin um die Wette. Gezwungenermaßen bedankten sich die Quakenbuschs, lächelten höflich zurück und die Nachbarn verschwanden in ihren Zelten.
„Welche Route möchtest du eigentlich fahren, Fridolin?“ fragte Monika schließlich leise.
„Es gibt genügend Straßen nach Frankreich“, erwiderte er schulterzuckend.
„Und wenn wir an der Grenze kontrolliert werden?“
„Werden wir nicht. Die Grenzer sind froh, wenn sie mal nichts arbeiten müssen.“
„Und wenn ein Unfall passiert?“
„Keine Angst, ich baue schon keinen Unfall!“ Ärger stieg in Fridolin hoch.
„Aber wenn uns einer reinfährt?“
„Herrgott noch mal, hör jetzt endlich auf mit deiner elenden Quengelei!“ zischte er böse. „Ich habe schon Ärger genug am Hals, da brauchst du mich nicht auch noch nervös zu machen! Auf der Herfahrt ist uns nichts passiert, und so wird es auch auf der Heimfahrt sein! Wenn dir das ein zu großer Nervenkitzel ist, dann kannst du ja meinetwegen mit dem Zug nach Hause fahren!“
„Nein, ich bleibe bei Mutter“, beharrte Monika mit weinerlicher Stimme.
„Dann tu mir den Gefallen und halte endlich die Klappe!“
Zum Abschied zeigte sich Spanien noch einmal von seiner schönsten Seite. Sternenklarer Himmel, angenehme warme Temperaturen, eine schwache Meeresbrise, unter-malt vom sanften Rauschen der nahen Brandung und den lauten, falschen Gesängen feiernder Urlauber, verabschiedete die Quakenbuschs nach Hause. Seit 23 Uhr hatten sie eine hektische und lautlose Betriebsamkeit entwickelt, begleitet von der Furcht, unliebsamen Beob-achtungen ausgesetzt zu sein. Die Kinder saßen auf dem Rücksitz zwischen dem Gepäck und schliefen fest wie Murmeltiere, und die Eltern hatten rasch und mit geübten Griffen das Zelt abgebaut. Fridolin hatte seine tote Schwiegermutter in ihren Schlafsack gestopft, diesen ge-schlossen und dann einfach in die Zeltleinwand gerollt, zu den Gestängen und Heringen. Letztendlich wurde das schwere Bündel fachmännisch auf dem Autodach festgezurrt. Schließlich hatte er den Motor gestartet und war langsam zum Ausgang des Campingplatzes gerollt.
Der erste Teil der Strecke lief gut. Wenig Verkehr auf den Straßen, die Kinder nervten nicht, Monika weinte immer noch leise vor sich hin, belästigte aber ihren Mann nicht mit dem üblichen Gezeter. Hätte er nicht so eine makabre Fracht geladen, vielleicht hätte Fridolin auch ein fröhliches Liedchen gepfiffen. Er drehte das Autoradio an, doch seltsamerweise sendeten die Radiostationen entweder nur Gespräche in spanischer Sprache, oder klassische Musik, was seine Stimmung auch nicht gerade verbesserte. So drehte es Fridolin wieder ab und fuhr stumm des Wegs.
Alsbald erreichten sie die spanisch-französische Grenze, was Fridolin einen leichten Schauer über den Rücken rie-seln ließ. Er kramte die Pässe seiner Familie hervor, betrachtete Monika von der Seite und entschied, dass sie sich am besten schlafend stellen sollte. Womöglich kam sonst noch der Verdacht auf, er hätte sie geschlagen, so verheult, wie sie aussah. Vor ihm standen fünf beladene Autos, deren Fahrer ebenfalls die Heimreise in den Norden angetreten hatten. Zügig wurden sie von einem spanischen Grenzbeamten abgefertigt. Mit der gelassensten Miene, die Fridolin in seiner prekären Situation aufzuset-zen vermochte, reichte er dem Spanier die aufgeklappten Ausweise durchs Fenster, doch der blendete ihn nur mit seiner Taschenlampe und winkte ihn weiter. Anscheinend hatte er sich bei der Menge der vorangegangenen Fahrzeuge arbeitsmäßig schon übernommen und wollte sich erst wieder etwas erholen. Fridolin atmete erleichtert auf und dachte, dass die erste Hürde geschafft war. Wenn die Franzosen auch so kooperativ mitspielten, war der Kuchen fast gegessen.
Der französische Beamte nahm stumm die Pässe entgegen und besah sie sich im Schein seiner Taschenlampe, jedes Mal mit dem Konterfei in natura vergleichend. Schließlich, nach endlos währenden Sekunden, reichte er die Ausweise zurück und fragte in holprigem Deutsch: „Woher kommen Sie, Moniseur?“
„Südlich von Barcelona“, erwiderte Fridolin artig.
„Wohin wollen Sie?“
„Nach Deutschland.“
„Bleiben Sie noch etwas in Frankreich?“
„Nein.“ Der Grenzer begann, Fridolin ganz entschieden auf den Wecker zu gehen.
„Haben Sie etwas zu verzollen, Moniseur?“
„Nein, gar nichts“, log Fridolin gewohnheitsgemäß und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich staune über Ihr gutes Deutsch, Moniseur. „Haben Sie das in Deutschland gelernt?“
„Oui. Ich arbeitete vier Jahre an der französisch-deut-schen Grenze. Öffnen Sie bitte Ihren Kofferraum.“
Fridolin schluckte, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Mit einem gequälten Lächeln überspielte er seine Nervosität und kam widerwillig der Aufforderung nach. Aufmerksam leuchtete der Zollbeamte hinein, schob einen kleinen Koffer zur Seite, fragte, was er enthielt und nickte dankend, als er eine umfassende Antwort enthielt. Fridolin durfte den Kofferraum wieder schließen, und als er wieder einsteigen wollte, rann es ihm plötzlich siedend heiß den Rücken hinab: der Franzose leuchtete die Lasten auf dem Dach ab.
„Ist das da Ihr Zelt?“ fragte er lakonisch und zeigte auf den langen Sack, in dem das Zelt nebst der Großmutter steckte. „Natürlich“, erwiderte Fridolin.
Der Beamte tastete es ab, was Fridolin noch zusätzliche Schweißperlen auf die Stirn trieb und Monika im Wageninneren noch kleiner werden ließ. Heftig rüttelte er an dem Sack, sodass er in seiner Verankerung seitlich verrutschte.
„Sie müssen Ihre Last besser befestigen, Moniseur, sonst verlieren Sie sie. So können Sie nicht weiterfahren!“
„Wird prompt erledigt“, erwiderte Fridolin und kam der Aufforderung schleunigst nach. Mit aller Kraft zurrte er das Gepäck fest, und als der Franzose schließlich zufrieden nickte, durfte er wieder einsteigen. Der Beamte wünschte eine angenehme Reise und winkte den nächsten Fahrer heran.
„Noch eine Minute, und ich hätte einen Schreikrampf be-kommen“, schluchzte Monika verhalten.
„Ach was, du benimmst dich wie ein kleines Mädchen“, erwiderte Fridolin geringschätzig und zündete sich zur Beruhigung eine Zigarette an. „In so einer Lage musst du einfach cool bleiben und dich ganz natürlich geben, dann kann auch nichts passieren. Und jetzt versuche, etwas zu schlafen. So ein Nervenbündel wie dich kann ich im Augenblick nicht gebrauchen.“ Die weitere Heimreise erfolgte zügig. Da die Franzosen die Autobahn aufgrund der Gebühren größtenteils mieden, hatte Fridolin freie Bahn und musste lediglich an den Zahlstellen anhalten. Die Kinder schliefen nach wie vor tief und fest und auch Monika war inzwischen in einen leichten, unruhigen Schlaf gesunken. Die Voraussetzungen für eine rasche und ungestörte Fahrt waren hervorragend, allerdings war Fridolin nicht mehr der Frischeste. Er benötigte sogar dringend Schlaf. Er gähnte in einem fort und musste höllisch aufpassen, dass er nicht die Straße aus den Augen verlor. Ein Hinweisschild zeigte schließlich an, dass in etwa 20 Kilometer Entfernung ei-ne große Raststätte zu erwarten war, so lange wollte er wenigstens noch durchhalten. Fridolin gab sich einen Ruck, gönnte sich noch eine Zigarette und drückte noch zusätzlich aufs Gaspedal. Je schneller er sein Etappenziel erreichte, desto besser.
Der großzügig angelegte Parkplatz war für diese nächtliche Stunde erstaunlich voll. Fridolin brauchte etwas, bis er einen freien, etwas abseits gelegenen Platz fand, wo er seinen Wagen parken konnte. Im Vorbeifahren hatte er entdeckt, dass verschiedene Fahrer in ihren Autos näch-tigten, so wusste er, dass er dies hier wohl problemlos riskieren konnte. Ohnehin wollte er nicht allzu lange pausieren, maximal drei bis vier Stunden. Dann noch ei-nen extrastarken, aufmunternden Kaffee im Restaurant drüben, dann wollte er auch schon weiter, um so bald wie möglich nach Hause zu kommen.
Im Morgengrauen wurden die Quakenbuschs durch Andreas geweckt. Er musste ganz dringend auf die Toilette. Die Eltern reckten und streckten sich, dann stieg der Vater gähnend aus. Er ließ seinen Sohn aussteigen und ins Restaurant hinüberrennen, um sich gleich wieder auf sei-nen Sitz fallen zu lassen. Fridolin steckte sich eine Zigarette an, stellte das Autoradio an und musterte stirnrunzelnd Monika, die ihre zerknitterte Kleidung und ihre zerzausten Haare zu ordnen versuchte.
„Möchtest du auch eine Zigarette?“ fragte er sie.
„Nein. Aber einen Kaffee könnte ich jetzt vertragen.“ Ihre Stimme klang wieder fest.
„In Ordnung. Wenn Andreas wieder da ist, genehmigen wir uns ein Frühstück. Ich glaube, das haben wir uns nach der ganzen Aufregung auch verdient.“
Geduldig warteten sie an die zehn Minuten, bis der Junge endlich wieder angerannt kam. Der Vater öffnete ihm die Tür und fragte: „Alles klar, mein Sohn?“
„Ja, Papa. Ich habe Hunger. Kann ich Pommes haben?“
„Ich auch, ich auch“, rief Caroline hinten im Wagen.
„Von mir aus. Aber schreit hier nicht so laut herum, das geht mir auf den Wecker!“
„Du, Papa“, fing Andreas wieder an.
„Was ist denn?“ fragte er unwillig.
„Warum hast du denn das Zelt heruntergemacht? Wollen wir hier bleiben?“
Es dauerte eine geraume Zeit, bis diese Frage voll in Fridolins Gedankengänge eingedrungen waren. Er und Monika starrten sich bestürzt an und entwickelten plötzlich trotz ihrer Müdigkeit eine ungeahnte Behändigkeit beim Aussteigen. Ungläubig starrten sie auf das Autodach und sahen – nichts. Das Zelt war verschwunden, mitsamt den beiden Koffern mit den Spielsachen der Kinder und dem geschmuggelten Wein.
„Verfluchte Scheiße!“ brüllte Fridolin und hieb mit der flachen Hand auf das Autodach. „Elendes Franzosenpack! Ich dachte immer, die Italiener und die Polen klauen wie die Raben, aber die Franzosen sind kein bisschen besser! Es ist zum Aus-der-Haut-fahren!“
Monika reagierte weniger geräuschvoll. Ungläubig starrte sie auf den leeren Gepäckständer, versuchte ein paar Worte zu stammeln und schüttelte dabei immerzu den Kopf. Tränen rannen ihr über ihre Wangen hinab. Und dann verdrehte sie auch noch die Augen und sank ohnmächtig zu Boden.
„Auch das noch!“ rief Fridolin und hastete um den Wagen herum. Behutsam hob er seine Frau hoch und zerrte sie mehr schlecht als recht auf den Beifahrersitz.
„Ihr beide bleibt brav bei der Mama im Auto sitzen“, befahl er Andreas und Caroline, „bis sie wieder wach ist. Ich suche inzwischen das Zelt!“ Er marschierte los und kontrollierte jedes Auto, blickte in jeden unübersehbaren Winkel des Parkplatzes, untersuchte die Raststätte und musterte kritisch jeden Menschen, doch die Suche war vergebens. Der oder die Täter hatten sich längst aus dem Staub gemacht.
Schließlich kehrte er zu seiner Familie zurück und meldete geknickt seinen Misserfolg. Monika, mittlerweile wieder unter den Lebenden, bestand nachdrücklich darauf, sofort zur Polizei zu gehen, worauf sich ihr Mann wieder genötigt sah, sie beiseite zu nehmen und ihr noch einmal den besonderen Sachverhalt mit der toten Frau im Gepäck verständlich zu machen. „Aber Mutter braucht doch ein anständiges Grab!“ be-gehrte sie weinend auf. „Wer weiß, was die Verbrecher mit ihr tun werden, wenn sie sie entdecken!“
„Begraben, was denn sonst“, entgegnete Fridolin wenig überzeugend. „Was würdest du denn in dem Fall tun?“
„Zur Polizei gehen“, antwortete sie trotzig.
„Natürlich. Und die buchtet dich dann wegen Mordverdacht oder sonst was ein!“
„Ich will aber Mutter wiederhaben!“ heulte Monika los.
„Du benimmst dich wie ein kleines Kind, Monika! Finde dich lieber damit ab, dass wir sie wohl für immer los sind! Rede dir einfach ein, dass sie irgendwo unter einer Palme begraben liegt. Zu Hause melden wir sie dann als vermisst, und damit hat sich's! Und überhaupt, wenn ich jetzt so an die Diebe denke...“
„Was ist mit denen?“ fragte Monika schroff.
Fridolin konnte sich einen plötzlichen Heiterkeitsausbruch nicht verkneifen.
„Warum grinst du so dämlich, Fridolin? Die Sache ist verdammt Ernst!“
„Ach, ich stelle mir nur gerade die dummen Gesichter der Kerle vor, wenn sie das Zelt aufbauen wollen und eine Leiche kommt ihnen entgegengerollt. Die Brüder klauen so schnell nichts mehr, darauf könnte ich wetten! Das muss wirklich eine urkomische Situation sein!“ Jetzt musste Fridolin sogar lachen.
Und dann passierte etwas, was noch nie in ihrer Ehe ge-schehen war, etwas, woran Fridolin auch noch nie einen Gedanken verschwendet hatte, weil er es als schlicht für undenkbar gehalten hatte: Monika verabreichte ihm eine schallende Ohrfeige und ließ ihn einfach stehen.
Erstaunt rieb sich Fridolin die schmerzende Wange und sah ihr verblüfft nach. Und er verstand nicht recht, weshalb sie nicht dem Schicksal dankbar war, dass es ihnen viele Scherereien und Kosten abgenommen hatte...

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